Totenbeschwörung
wusste, dass er so höllische Schmerzen litt, weil die verletzten Glieder wieder zusammenwuchsen und sich mit neuem Leben füllten. Sein Vampirfleisch hatte das restliche Silberschrot, das die Aussätzigen in der Leprakolonie übersehen hatten, wieder abgestoßen. Seine gestauchten und gebrochenen Knochen waren dabei zu heilen und würden bald stärker sein als zuvor. Sein zerstörtes Gesicht war von Narben überzogen, die er behalten konnte, sofern es ihm beliebte, oder auch nicht. Sollten sie ihn nicht zu sehr entstellen, würde er sie selbstverständlich behalten, gewissermaßen als Erinnerung an das, was die Szgany Lidesci ihm schuldeten.
Allein der Name schmeckte bitter wie Galle. Er hätte besser auf Wratha hören und sie gemeinsam mit dem Hunde-Lord und allen Truppen, die ihnen zur Verfügung standen, bei ihrem Raubzug unterstützen sollen. Dann hätten sie mit vereinten Kräften zuschlagen können! Wäre er nicht so starrsinnig gewesen, hätte er seinen Mitstreitern alles über den Zufluchtsfelsen gesagt, hätte er sie hierhergeführt, um den Ort einzunehmen, dann wäre mit Sicherheit alles anders ausgegangen. Doch nun ...
Wo mochte sich dieser Nathan, sein Erzrivale, Herr über den Zahlenwirbel und zugleich sein unbekannter Bruder, nun aufhalten? Und wo befand sich Misha, diese Schlampe, die Nestor verraten hatte, wenn auch in einer Welt, an die er sich kaum zu erinnern vermochte? Diese beiden waren der wahre Grund dafür, dass er nun in der Klemme saß; und am schlimmsten war die Tatsache, dass er noch nicht einmal wusste, wie sein Plan, sie in einen Hinterhalt zu locken und ein für alle Mal zu erledigen, ausgegangen war – ob er wenigstens zum Teil funktioniert hatte oder völlig fehlgeschlagen war.
Einzig sein Leutnant Zahar Leichenscheu, vormals Saugersknecht, konnte Nestor dies sagen. Und Zahar befand sich, sofern er noch am Leben war, in der Saugspitze. Doch ganz gleich, wie die Dinge sich entwickelt hatten, von Nestors Standpunkt aus war alles ganz fürchterlich schiefgelaufen! Andererseits ... Vielleicht stand es ja doch nicht so schlimm. Denn als er seine Vampirsinne vorsichtig durch die ihn umgebende Dämmerung schweifen ließ und den mentalen Äther abtastete, um zu lauschen, entdeckte er nirgends auch nur die geringste Spur eines Zahlenwirbels. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, schien sein Geist vollkommen frei davon.
Behutsam betastete Nestor sein zerfetztes, bereits wieder heilendes Gesicht, wischte sich kleine Steinchen und Sand aus dem Haar und machte sich bereit, in die immer länger werdenden Schatten hinauszutreten, in denen die Vögel des Waldes allmählich verstummten. Während die Nacht hereinbrach, wanderten seine Gedanken zurück zu den Ereignissen, die zu all dem geführt hatten ...
Nachdem Glina den Freitod gewählt und ihn verflucht hatte (ihr Fluch hallte ihm in den Ohren und er schien noch immer zu wirken), hatte er ganze drei Viertel des Sonnaufs hindurch der Versuchung widerstanden. Doch dann war er der Verlockung von Wrathas vampirisch schönem Körper erlegen und obwohl er sich für diese – wie er es sah – menschliche Schwäche verachtete, war er wie von einem Magneten angezogen zu ihr hinaufgestiegen.
Doch diesmal war es ... anders gewesen, vielleicht nicht für Wratha, wohl aber für ihn. Denn Nestor hatte gespürt, dass sie ihn liebte oder ihm zumindest ein Gefühl entgegenbrachte, das bei einem Vampir als Liebe durchgehen mochte, und dass er die Oberhand gewann. Diese Gewissheit hatte ihn stark gemacht! Später, nachdem sie eingeschlafen waren, hatte er wieder von dem Mahlstrom aus Zahlen geträumt – wovon auch sonst? – und von dem Mann, der sich dahinter verbarg, seinem verhassten Bruder Nathan. Doch als Nestor schließlich aus dem Schlaf schreckte, war ihm klar gewesen, dass dieser Traum sich von allen anderen unterschied.
Denn selbst nachdem er hellwach war, blieb ein nagendes Gefühl zurück, etwas, das ihn unablässig beschäftigte – jener unerträgliche, sinnlose Wirbel sich ständig verändernder Zahlen! Er nahm ihn nur ganz schwach wahr, während das Licht der Sonne über den Bergen verblasste, dennoch war er da. Er ging von der Sonnseite aus, und zwar vom Gebiet der Szgany Lidesci. Und diesmal war er wirklich, keine bloße Erinnerung, sondern eine Tatsache! So lange war er weg gewesen und nun war er wieder da! Nestors Gegner war zurückgekehrt ...
Der Gedanke an seinen Widersacher jagte Nestor, obgleich er ein Vampir war, einen Schauder
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