Totenbuch
denkt an die Schlachten, die hier gefochten wurden,
und an die Menschen, die ihr Leben verloren haben, um dem Süden einen Strich
durch die Rechnung zu machen. Schwarze Soldaten aus den Nordstaaten mussten
sterben, damit dem Übel der Sklaverei endlich Einhalt geboten werden konnte.
Sie glaubt, das Stöhnen der Verwundeten im hohen Gras zu hören, und bittet Lucy
und Benton, sich nicht zu weit zu entfernen. Der Schein ihrer Taschenlampen
durchschneidet die Dunkelheit wie lange, leuchtende Klingen.
»Da drüben!«, ruft Lucy, die im
Schatten zweier Dünen steht. »Mein Gott! Tante Kay kannst du Gesichtsmasken
mitbringen?«, fügt sie hinzu.
Scarpetta holt einen großen
Tatortkoffer aus dem Gepäckraum, stellt ihn in den Sand und kramt die Masken
hervor. Wenn Lucy eine Maske braucht, muss es ziemlich schlimm sein.
»Wir können sie nicht beide auf
einmal abtransportieren.« Der Wind trägt Bentons Stimme zu ihr hinüber.
»Was zum Teufel ist hier los?«,
fragt Lucy. »Habt ihr dieses Geräusch gehört?«
Irgendwo in den Dünen ertönt ein
Flattern.
Als Scarpetta sich den
Lichtkegeln der Taschenlampen nähert, wird der Gestank stärker. Er scheint dick
in der Luft zu liegen, und ihr brennen die Augen, während sie die Masken an
Benton und Lucy verteilt und selbst eine anlegt, weil sie kaum noch atmen kann.
Sie stehen in einer Mulde zwischen den Dünen, die man vom Strand aus nicht
sehen kann. Die Frau ist nackt und ziemlich aufgequollen, weil sie schon
einige Tage hier draußen gelegen hat. Die Maden haben sich bereits über sie
hergemacht, sodass von Gesicht, Augen und Lippen nicht mehr viel übrig ist und
die Zähne freiliegen. Im Licht ihrer Taschenlampe erkennt Scarpetta den implantierten
Anker aus Titan, auf dem einmal eine Krone gesessen hatte. Die Kopfhaut ist der
Leiche vom Schädel gerutscht, das lange Haar liegt ausgebreitet im Sand.
Lucy stapft durch Strandhafer
und Gras auf das flatternde Geräusch zu, das Scarpetta auch gehört hat. Sie
ist nicht sicher, was sie tun soll, denkt an Schießpulverreste im Sand und an
die Geschichte dieses Ortes und fragt sich, welche Bedeutung die Vergangenheit
für den Täter haben mag. Er hat hier sein eigenes Schlachtfeld geschaffen. Wie
viel mehr Tote würden noch hier liegen, wenn sie die Insel nicht rechtzeitig
gefunden hätten? Und zwar nur anhand der Spuren vom Barium, Antimon und Blei,
von denen er vermutlich gar nichts ahnte. Scarpetta glaubt ihn zu spüren. Seine
Wahnwelt scheint die Luft zu erfüllen.
»Ein Zelt!«, ruft Lucy. Sie
laufen zu ihr hin.
Sie steht hinter einer anderen
der vielen Dünen, die sich, überwuchert von Gras und Gestrüpp, bis in die
Ferne erstrecken. Offenbar hat der Täter - oder eine andere Person - hier ein
Lager aufgeschlagen und sich aus Aluminiumstangen und einer Plane einen
Unterstand gebaut. Die Plane hat einen Riss, durch den der Wind pfeift. Daher
das flatternde Geräusch. In dem Zelt befinden sich eine Matratze mit einer
ordentlich gefalteten Decke und eine Laterne. Außerdem eine Kühlbox, deren
Deckel Lucy mit dem Fuß anhebt. Das Wasser darin steht einige Zentimeter hoch.
Ein Test mit dem Finger ergibt, dass es lauwarm ist.
»Ich habe eine Transportgondel
im Helikopter«, sagt Lucy. »Wie willst du weiter vorgehen, Tante Kay?«
»Zuerst müssen wir alles hier
fotografieren und vermessen und außerdem sofort die Polizei verständigen.« Es
gibt so viel zu tun. »Können wir nicht zwei Leichen auf einmal
abtransportieren?«
»Nicht mit nur einer
Transportgondel.«
»Ich möchte mir alles hier genau
ansehen«, sagt Benton.
»Wir verpacken sie zuerst in die
Leichensäcke. Dann musst du sie nacheinander abholen«, erwidert Scarpetta. »Wo
möchtest du sie absetzen, Lucy? Am besten irgendwo, wo wir unbeobachtet sind.
Ich rufe Hollings an und bitte ihn um Hilfe.«
Schweigend lauschen sie dem
Flattern des provisorischen Zelts, dem Rauschen des Grases und dem Plätschern
der Wellen. Der Leuchtturm, der aus dem schwarzen, gekräuselten Wasser ragt, erinnert
an einen Bauern aus einem Schachspiel. Irgendwo treibt sich der Mensch herum,
der dieses unvorstellbare Grauen verursacht hat. Ein Ritter des Unglücks. Aber
Scarpetta hat kein Mitleid mit ihm.
»Also los«, sagt sie und greift
zum Mobiltelefon. Aber hier unten befindet sie sich in einem Funkloch. »Du
musst ihn während des Flugs anrufen«, meint sie zu Lucy. »Oder versuch es
gleich bei Rose.“
»Rose?“
»Tu es einfach.“
»Warum?«
»Weil sie vermutlich
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