Totenbuch
Benimm dich gefälligst anständig. Nicht ich habe mich entschieden,
in diesen faschistischen Krieg zu ziehen, sondern du. Also hör mit dem
kindischen Gejammer auf. Hast du da drüben eigentlich gebetet?«
Als die Wand aus Sand sich ihnen entgegenstellte und
Will nicht mehr die Hand vor Augen sehen konnte, hat er gebetet. Dann wurde der
Humvee von der Wucht der Bombe am Straßenrand umgeworfen, er war geblendet, und
es herrschte ein Dröhnen wie von den Turbinen einer Globemaster. Er hat
gebetet. Mit Roger in den Armen hat er gebetet. Und als er Rogers Qualen nicht
mehr ertragen konnte, hat er auch gebetet. Zum allerletzten Mal.
»Wenn wir beten, bitten wir eigentlich uns selbst -
nicht Gott - um Hilfe. Wir bitten um göttliche Rettung durch uns selbst«, sagte
Wills Mund im Spiegel zu seinem Vater in Rom. »Also habe ich es nicht nötig, zu
einem Gott auf einem Thron zu beten. Ich bin Gottes Wille, weil ich nach
meinem eigenen Willen lebe. Deinen Gott brauche ich nicht, weil ich Gottes
Wille bin.«
»Hast du gleichzeitig mit deinen
Zehen auch den Verstand verloren?«, fragte sein Vater in Rom, ein seltsamer
Einwand in einem Raum, wo auf einer vergoldeten Konsole unter dem Spiegel, alle
Zehen intakt, ein antiker steinerner Fuß stand. Will hat abgetrennte Füße
gesehen, nachdem Selbstmordattentäter mitten in Menschenansammlungen
hineingefahren waren. Also ist der Verlust einiger Zehen der Möglichkeit
vorzuziehen, dass - bis auf einen Fuß - nichts von einem übrig bleibt.
»Das ist längst ausgeheilt. Aber
du hast ja keine Ahnung«, sagte er zu seinem Vater in Rom. »In all den Monaten
in Deutschland oder in Charleston hast du mich nie besucht. Du warst kein einziges
Mal in Charleston. Ich war schon so oft hier in Rom, allerdings nicht
deinetwegen, auch wenn du das nicht geglaubt hast. Heute ist eine Ausnahme,
weil ich einen Plan habe. Eine Mission, verstehst du? Ich durfte überleben,
damit ich andere von ihrem Leid erlösen kann. Du wirst das nie begreifen, weil
du ein Egoist und ein Schmarotzer bist und dich nur für dein eigenes
Wohlergehen interessierst. Schau dich doch nur an. Stinkreich, gleichgültig
und kalt.«
Wills
Körper stand vom Tisch auf. Er sah sich selbst dabei zu, wie er zum Spiegel und
zu der vergoldeten Konsole hinüberging und nach dem antiken Steinfuß griff.
Draußen plätscherte der Brunnen, und die Touristen redeten laut durcheinander.
Jetzt hat er einen Anglerkoffer bei sich. Die Kamera
geschultert, marschiert er, getrieben von seiner Mission, den Strand von Hilton
Head entlang. Nach einer Weile setzt er sich, öffnet den Anglerkoffer und
nimmt einen Gefrierbeutel mit einem ganz besonderen Sand und einige Röhrchen
heraus, die einen hellvioletten Klebstoff enthalten. Im Schein der Taschenlampe
verteilt er den Klebstoff auf seinen Handflächen und steckt sie dann
nacheinander in den Beutel mit dem Sand. Er hält die Hände in den Wind, sodass
der Klebstoff rasch trocknet. Nun hat er Hände wie Schmirgelpapier. Anschließend
fördert er weitere Röhrchen zutage und wiederholt die Prozedur, sorgfältig bis
zu den Ballen seiner sieben Zehen, mit seinen nackten Fußsohlen. Die leeren
Röhrchen und den restlichen Sand verstaut er wieder in seinem Koffer.
Durch die getönte Brille blickt er sich um und
schaltet die Taschenlampe aus.
Sein Ziel ist das Schild mit der Aufschrift Betreten verboten, das am
Strand steht. Dahinter führt ein langer Holzsteg zum eingezäunten Garten der
Villa.
7
Der Parkplatz hinter Scarpettas Bürogebäude ist
schon seit Eröffnung der Praxis ein Stein des Anstoßes, denn die Nachbarn
haben gegen fast jeden ihrer Anträge bei der Baubehörde Beschwerde eingelegt.
Den Sicherheitszaun hat sie zwar mit der Auflage, ihn mit immergrünen Pflanzen
und Kletterrosen zu tarnen, durchsetzen können, doch die Beleuchtung hat man
ihr nicht genehmigt. Deshalb ist es auf dem Parkplatz jetzt nachts viel zu
dunkel.
»Bis jetzt sehe ich keinen Grund, warum wir ihm
nicht eine Chance geben sollten. Wir könnten wirklich einen Mitarbeiter gebrauchen«,
sagt Scarpetta.
Palmen flattern im Wind, und die Pflanzen am Zaun
schwanken, als sie und Rose zu ihren Autos gehen.
»Ich habe niemanden, der mir im Garten hilft.
Außerdem kann ich schließlich nicht allen meinen Mitmenschen misstrauen«, fügt
sie hinzu.
»Lassen Sie sich nicht von Marino in etwas
hineindrängen, das Sie später bereuen könnten«, warnt Rose.
»Dem traue ich zurzeit übrigens überhaupt
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