Totenbuch
einstöckigen unterkellerten
Backsteingebäudes, das sie zu einem privatwirtschaftlich geführten
Gerichtsmedizinischen Institut umgebaut hat. »Er hat sich in Florida pudelwohl
gefühlt.« Bei diesen Worten fällt ihr Dr. Seif ein.
Rose reguliert die Klimaanlage und verstellt die
Düsen so, dass ihr die kalte Luft ins Gesicht bläst. Dann atmet sie wieder tief
durch.
»Ist auch wirklich alles in Ordnung? Oder soll ich
hinter Ihnen herfahren?«, fragt Scarpetta. »Absolut überflüssig.«
»Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen privat
treffen? Ich koche uns etwas. Prosciutto mit Feigen und danach den Schweinebraten in
Weinsauce, den Sie so mögen. Dazu einen guten toskanischen Wein. Und zum
Schluss Ihren Lieblingsnachtisch: Ricottakäse mit Kaffeecreme.«
»Vielen Dank, aber ich habe schon etwas vor.« Ein
trauriger Tonfall schwingt in Roses Stimme mit.
Die dunklen Umrisse des Wasserturms ragen über die
Südspitze der Insel - den sogenannten Zeh.
Hilton Head hat die Form
eines Schuhs von der Art, wie Will sie häufig im Irak gesehen hat. Die weiß
verputzte Villa, deren Besitzerin das Schild mit der Aufschrift Betreten verboten aufgestellt hat, ist mindestens
fünfzehn Millionen Dollar wert. Die elektrisch gesteuerten Rollläden sind
geschlossen. Vermutlich liegt die Frau auf dem Wohnzimmersofa und sieht sich
wieder einmal einen Film auf der motorbetriebenen Leinwand an, die fast die
ganze dem Meer zugewandte Glasfront einnimmt. Für Will, der von außen hineinblickt,
sieht es aus, als liefe der Streifen seitenverkehrt ab. Er mustert die
leerstehenden Nachbarhäuser. Dunkle Wolken hängen tief am Himmel. Der Wind fegt
in heftigen Böen über den Strand.
Will folgt dem hölzernen Steg bis zu dem Tor, das
die Außenwelt vom Garten trennt. Die ganze Zeit über bewegen sich die Filmbilder
auf der riesigen Leinwand: ein Mann und eine Frau beim Vögeln. Als Will
weitergeht, beschleunigt sich sein Puls. Seine Schritte sind auf den
verwitterten Bohlen nicht zu hören. Auf dem Bildschirm zucken die Leiber der
Schauspieler. Sie ficken in einem Lift. Der Ton ist so leise gestellt, dass
Will das Poltern und Stöhnen kaum wahrnehmen kann, heftige Geräusche, wie
immer, wenn es Leute in Hollywood-Filmen miteinander treiben. Will erreicht das
hölzerne Tor, klettert darüber und bezieht seinen üblichen Posten an der Seite
des Hauses.
Durch eine Ritze zwischen Fensterrahmen und
Rollladen beobachtet er sie nun schon seit Monaten. Er hat zugesehen, wie sie
im Haus auf und ab rennt, weint und sich die Haare ausreißt. Nachts schläft sie
nie. Offenbar fürchtet sie sich vor der Dunkelheit und auch vor Gewittern. Die
ganze Nacht und bis in die frühen Morgenstunden hinein schaut sie sich Filme
an. Die Filme laufen ununterbrochen, und wenn es regnet oder donnert, dreht
sie die Lautstärke auf. Doch wenn die Sonne scheint, versteckt sie sich davor.
Meistens schläft sie auf der schwarzen U-förmigen Ledercouch, wo sie auch nun
wieder liegt, gestützt von Lederpolstern und unter einer Decke. Sie hebt die
Fernbedienung und spult die DVD zu der Szene zurück, wo Glenn Close und Michael Douglas im
Aufzug vögeln.
Die Häuser links und rechts sind hinter hohen
Bambusstauden und Bäumen verborgen. Es ist niemand zu Hause. Sie stehen leer,
weil ihre reichen Besitzer sie nicht vermieten und meistens durch Abwesenheit
glänzen. Viele Familien nutzen ihre teuren Strandhäuser ausschließlich während
der großen Ferien. Sicher freut sie sich, keine Menschen um sich zu haben. Die
Nachbarn haben sich den ganzen Winter nicht blicken lassen. Sie will allein
sein, hat aber gleichzeitig eine Todesangst davor. Sie fürchtet sich vor Donner
und Regen. Ihr graut vor wolkenlosem Himmel und Sonnenschein. Eigentlich
möchte sie, ganz gleich unter welchen äußeren Bedingungen, am liebsten
nirgendwo sein.
Deshalb bin ich hier.
Wieder spult sie die DVD zurück.
Will kennt ihre Rituale. Tagein, tagaus liegt sie in demselben schmutzigen rosafarbenen
Jogginganzug da, spult Filme hin und her und sieht sich ein ums andere Mal
dieselben Szenen an, normalerweise Leute beim Vögeln.
Hin und wieder geht sie hinaus zum Pool, um eine zu
rauchen und um ihren bedauernswerten Hund aus seinem Zwinger zu lassen. Nie
macht sie hinter ihm sauber, sodass der Rasen nur so von angetrockneten
Häufchen strotzt. Der mexikanische Gärtner, der alle zwei Wochen kommt, kümmert
sich auch nicht um die Scheiße. Sie raucht und starrt in den Pool, während der
Hund im
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