Totenbuch
einiges in seinem Leben hätte verändern können.
Doch auf dieses Ding habe ich keinen Einfluss.« Rose klopft sich auf die
Brust. »Sie hingegen haben die Macht, fast alles zu verändern, was Sie wollen.«
Kurz stehen Scarpetta Bilder der
letzten Nacht vor Augen, und sie glaubt wieder, ihn zu riechen und zu spüren.
Es kostet sie Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt sie ist.
»Was haben Sie?« Rose drückt ihr
die Hand.
»Erwarten Sie etwa, dass ich
jetzt Luftsprünge mache?«
»Sie haben gerade an etwas
anderes gedacht, nicht an mich«, beharrt Rose. »Marino sieht schrecklich aus
und benimmt sich merkwürdig.«
»Weil er gestern sturzbesoffen
war«, erwidert Scarpetta zornig.
»So drastisch drücken Sie sich
doch sonst nicht aus. Allerdings werde auch ich in letzter Zeit immer vulgärer.
Bei meinem Telefonat mit Lucy heute Morgen habe ich tatsächlich das Wort Fotze benutzt, und zwar im Zusammenhang mit
Marinos neuester Flamme. Übrigens hat Lucy die fragliche Dame heute Morgen
gegen acht zufällig in der Nähe Ihres Hauses gesehen. Und vor dem Haus selbst
parkte Marinos Motorrad.«
»Ich habe Ihnen etwas zu essen
mitgebracht. Die Kiste steht noch auf dem Flur. Ich hole sie und stelle alles
in den Kühlschrank.«
Ein Hustenanfall. Als Rose das
Taschentuch vom Mund nimmt, ist es mit hellrotem Blut gesprenkelt.
»Bitte lassen Sie sich von mir
nach Stanford bringen«, fleht Scarpetta.
»Erzählen Sie mir, was gestern
Nacht passiert ist.«
»Wir haben geredet.« Scarpetta
spürt, wie sie rot anläuft. »Bis er zu betrunken war.«
»Ich glaube, ich habe Sie noch
nie rot werden sehen.«
»Eine Hitzewallung.«
»Ja, und ich habe die Grippe.«
»Sagen Sie mir, was ich für Sie
tun kann.«
»Lassen Sie mich einfach weiter
meinen Alltag leben. Ich will nicht reanimiert werden oder im Krankenhaus
sterben.«
»Warum ziehen Sie nicht bei mir
ein?«
»Weil das nicht mein gewohnter
Alltag wäre«, erwidert Rose. »Geben Sie mir wenigstens die Erlaubnis, mit Ihrem
Arzt zu sprechen?«
»Mehr, als ich Ihnen gerade
erzählt habe, brauchen Sie nicht zu wissen. Sie haben mich gefragt, was Sie für
mich tun können, und das ist meine Antwort: Heilung ist nicht möglich, nur
Linderung.«
»Ich habe ein freies Zimmer,
auch wenn es klein ist. Vielleicht sollte ich in ein größeres Haus ziehen«,
bietet Scarpetta an.
»Wenn Sie es mit der
Selbstlosigkeit weiter so übertreiben, erreichen Sie nur das Gegenteil. Es ist
egoistisch von Ihnen, mir ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle einzuimpfen,
weil ich allen Menschen in meiner Umgebung wehtun muss.«
»Darf ich es Benton sagen?«,
fragt Scarpetta nach kurzem Zögern.
»Einverstanden. Aber nicht
Marino. Er soll es nicht erfahren.« Rose setzt sich auf und stellt die Füße auf
den Boden. Dann fasst sie Scarpetta an beiden Händen. »Ich bin zwar keine
Gerichtsmedizinerin«, sagt sie. »Aber die frischen Blutergüsse an Ihren Handgelenken
kommen mir doch recht merkwürdig vor.«
Der Basset sitzt immer noch da,
wo sie ihn zurückgelassen haben, und zwar im Sand unter dem Schild mit der
Aufschrift Betreten
verboten.
»Schau, das ist doch nicht
normal«, ruft Madelisa. »Er wartet jetzt schon seit über einer Stunde hier auf
uns. Na, mein Schlappöhrchen! Du süßes Hundchen.«
»Ganz sicher heißt er nicht so,
Schatz. Verpass ihm also keinen Namen, sondern sieh dir lieber seine
Hundemarke an«, kommentiert Ashley. »Dann wissen wir, wie er heißt und wo er
wohnt.«
Als Madelisa sich bückt, trottet
der Basset auf sie zu, schmiegt sich an sie und leckt ihr die Hand. Allerdings
kann sie ohne Lesebrille die Aufschrift auf der Hundemarke nicht entziffern.
Ashley hat auch keine Brille dabei.
»Ich kann nichts erkennen«,
stellt sie fest. »Nur, dass da offenbar keine Telefonnummer steht. Außerdem
habe ich mein Telefon sowieso nicht eingesteckt.«
»Ich auch nicht.«
»Das war aber dumm von dir. Was
wäre, wenn ich mir hier draußen den Knöchel verstauchen würde? Hier grillt
jemand«, fügt sie hinzu, schnuppert, blickt sich um und sieht, dass hinter dem
großen weißen Haus mit den Baikonen und dem roten Dach - einem der wenigen mit
einem Betreten
verboten- Schild - Rauch aufsteigt. »Warum läufst du nicht los und schaust,
was es zu essen gibt«, wendet sie sich an den Hund und krault seine
Schlappohren. »Vielleicht sollten wir uns auch einen kleinen Grill kaufen und
heute draußen essen.«
Wieder versucht sie, die
Hundemarke zu
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