Totenbuch
entziffern, aber ohne Lesebrille ist es zwecklos. Sie stellt sich
vor, wie die reichen Leute, sicher irgendwelche Millionäre, auf der Terrasse
des großen weißen Hauses hinter den Dünen und den hohen Pinien grillen.
»Sag hallo zu deiner Schwester,
der alten Jungfer«, fordert Ashley, der inzwischen wieder filmt, Madelisa auf.
»Erzähl ihr, dass wir hier im Millionärsviertel auf Hilton Head in einer
Luxusvilla wohnen. Das nächste Mal nehmen wir auch eine tolle Hütte wie die, wo
gerade gegrillt wird.«
Madelisa blickt den Strand
entlang in Richtung des Hauses, in dem sie wohnen, das man durch die dichten
Bäume jedoch nicht erkennen kann. »Ich wette, dass seine Besitzer in dieser
Villa dort leben«, sagt sie, womit sie den Hund meint. Sie deutet auf das weiße
Haus im europäischen Stil, wo der Grill qualmt. »Ich gehe mal hin und frage
nach.«
»Nur zu. Ich filme noch ein
bisschen. Vorhin habe ich ein paar Delphine gesehen.«
»Komm, Schlappöhrchen, lass uns
deine Familie suchen«, redet Madelisa auf den Hund ein.
Doch der bleibt im Sand sitzen
und rührt sich nicht. Als sie ihn am Halsband wegzuzerren versucht, weigert er
sich. »Also gut«, seufzt sie. »Dann wartest du eben hier. Ich erkundige mich in
dem großen Haus, ob du dort wohnst. Vielleicht bist du ja davongelaufen, ohne
dass es jemand gemerkt hat. Aber eins steht fest. Du wirst sicher schon sehr
vermisst.«
Nachdem sie den Hund umarmt und
geküsst hat, marschiert sie über den festen Sand los bis dorthin, wo er
lockerer wird und der Strandhafer beginnt, obwohl sie gehört hat, dass das
Spazierengehen in den Dünen nicht erlaubt ist. Vor dem Schild mit der Aufschrift Betreten verboten bleibt sie kurz stehen, betritt
dann mutig den Holzsteg und steuert auf das große weiße Haus zu, wo irgendein
wohlhabender Mensch, vielleicht sogar ein Prominenter, offenbar gerade grillt.
Wahrscheinlich gibt es gleich Mittagessen, denkt sie, während sie sich immer
wieder umschaut, in der Hoffnung, dass der Basset inzwischen nicht wieder
verschwindet. Doch die Düne versperrt ihr die Sicht. Auch am Strand kann sie
ihn nicht erkennen. Sie sieht nur Ashley, eine kleine Gestalt, die filmt, wie
einige Delphine im Wasser herumtollen. Ihre Flossen durchschneiden die Wellen.
Im nächsten Moment sind sie wieder untergetaucht. Der Steg endet an einem
Holztor. Zu Madelisas Überraschung ist es nicht abgeschlossen, ja, nicht einmal
richtig zugezogen.
Sie tritt in den Garten, sieht
sich um und ruft laut »Hallo!«. Noch nie hat sie einen so großen Pool mit
schwarzem Grund gesehen. Die schicken Kacheln stammen vermutlich aus Italien,
Spanien oder einem anderen exotischen Land. Immer weiter sucht sie, ruft und
bleibt verwundert an dem qualmenden Gasgrill stehen, wo ein unregelmäßig
geschnittenes Stück Fleisch, auf einer Seite angebrannt, auf der anderen blutig
und roh, vor sich hin kokelt. Das Fleisch sieht merkwürdig aus, weder wie Steak
noch wie Schwein und eindeutig nicht wie Geflügel.
»Hallo!«, ruft sie wieder. »Ist jemand
zu Hause?«
Sie klopft an der Tür des
Wintergartens. Keine Antwort. In der Annahme, dass der Mensch, der da grillt,
doch irgendwo sein muss, geht sie zur Seite des Hauses. Aber der Garten ist
menschenleer und verwildert. Als sie durch eine Ritze zwischen Jalousien und
Fensterrahmen späht, sieht sie eine leere, ganz mit Stein und Edelstahl
ausgestattete Küche, wie sie sie nur aus Zeitschriften kennt. Auf einer Matte
neben der Arbeitsfläche bemerkt sie zwei große Hundenäpfe.
»Hallo!«, schreit sie. »Ich
glaube, ich habe Ihren Hund gefunden! Hallo!« Sie geht um das Haus herum und
steigt eine Vortreppe hinauf. Neben der Tür befindet sich ein Fenster, bei dem
eine Scheibe fehlt. Eine andere ist zerbrochen. Am liebsten würde Madelisa
sofort zum Strand zurücklaufen. Doch in der Waschküche entdeckt sie einen
großen leeren Hundezwinger.
»Hallo!« Ihr Herz klopft, denn
genau genommen begeht sie hier Hausfriedensbruch. Allerdings ist sie nun
sicher, dass der Hund hierher gehört. Also ist es ihre Pflicht, zu helfen. Wie
hätte sie sich denn gefühlt, wenn Frisbee davongelaufen und nicht zurückgebracht
worden wäre?
»Hallo!« Als sie am Türknauf
dreht, öffnet sich die Tür.
12
Von den Eichen tropft das
Wasser.
Im Schatten der Vogelbeer- und
Olivenbäume arrangiert Scarpetta Tonscherben auf dem Grund von Blumentöpfen,
damit sich keine Staunässe bildet, die dazu führen würde, dass die Pflanzen
verfaulen. Die warme
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