Totenbuch
herunter.
»Offenbar sorgt mein Beruf eher
dafür, dass mir alles noch näher geht.«
»Hmmm. Das ist wahrscheinlich
immer das Problem, wenn man zu viel weiß. Sie sollten rings um die Hortensien
da drüben ein paar rostige Nägel in den Boden stecken. Dann werden sie hübsch
blau.«
»Mit Epsom-Salz funktioniert das
auch.«
»Davon habe ich noch nie gehört.«
Durch eine Juwelierlupe mustert
Scarpetta die Rückseite eines Kamelienblattes, wo sie weißliche Schuppen
entdeckt. »Die müssen wir zurückstutzen. Und da sie verseucht sind, dürfen wir
die Werkzeuge erst wieder benutzen, nachdem wir sie desinfiziert haben. Ich
muss einen Spezialisten für Pflanzenkrankheiten kommen lassen.«
»Hmm. Pflanzen werden krank wie
wir Menschen auch.«
In der Krone der Eiche, die er
gerade beschneidet, streiten sich einige Krähen. Im nächsten Moment fliegen ein
paar von ihnen davon.
Madelisa steht so erstarrt da
wie die Frau in der Bibel, die Gott nicht gehorcht hat und zur Strafe dafür in
eine Salzsäule verwandelt wurde. Schließlich begeht sie Hausfriedensbruch und
verstößt gegen das Gesetz.
»Hallo?«, ruft sie wieder.
Dann nimmt sie ihren ganzen Mut
zusammen und geht von der Waschküche in die riesige Küche des prachtvollsten
Hauses, das sie je gesehen hat. Ein ums andere Mal ruft sie »Hallo!«, unsicher,
wie sie sich verhalten soll. Eine solche Angst hat sie noch nie gehabt. Am
liebsten würde sie sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Während
sie durchs Haus schleicht und alles begafft, kommt sie sich vor wie eine
Einbrecherin. Sicher wird man sie früher oder später erwischen. Und dann
wandert sie ins Gefängnis.
Es wäre sicher am besten, sofort
zu verschwinden. Die Nackenhaare stellen sich ihr auf, als sie immer wieder
»Hallo!« und »Ist jemand zu Hause?« ruft. Dabei fragt sie sich, warum das Haus
nicht abgeschlossen ist und warum Fleisch auf dem Grill liegt, wenn die
Bewohner durch Abwesenheit glänzen. Allmählich fühlt sie sich beobachtet, als
sie weitergeht. Etwas warnt sie, dass sie so schnell wie möglich hier
verschwinden und zu Ashley zurückkehren sollte. Sie hat kein Recht, in diesem
Haus herumzuschnüffeln. Doch da sie nun einmal hier ist, kann sie der
Versuchung nicht widerstehen. Noch nie hat sie ein solches Haus gesehen, und
sie versteht nicht, warum niemand auf ihr Rufen antwortet. Und so verhindert
ihre Neugier, dass sie den Rückzug antritt. Sie ist machtlos dagegen.
Ein Türbogen führt in ein
riesiges Wohnzimmer. Der Fußboden sieht aus, als bestünde er aus einer Art
Edelstein. Die Orientteppiche sind sicher sündhaft teuer gewesen. Die
Deckenbalken liegen frei, und der Kamin ist groß genug, um ein Schwein darin zu
bra ten. Eine Filmleinwand bedeckt die Glasfront, die aufs Meer
hinausgeht. Staubteilchen schweben im Lichtstrahl des Projektors. Die Leinwand
ist zwar beleuchtet, aber leer, und kein Geräusch ist zu hören. Als Madelisas
Blick auf die Eckcouch aus schwarzem Leder fällt, bemerkt sie zu ihrem
Erstaunen die ordentlich gefalteten Kleidungsstücke darauf: ein dunkles
T-Shirt, eine gleichfarbige Hose und eine Herrenunterhose. Auf dem großen
Couchtisch aus Glas liegen Zigarettenpäckchen und Medikamentendöschen. Auch
eine fast leere 0,7 -Liter-Flasche Grey-Goose-Wodka
steht darauf.
Madelisa kommt zu dem Schluss,
dass der Bewohner - sicher ein Mann - betrunken, depressiv oder krank ist.
Sicher ist der Hund deshalb davongelaufen. Noch vor kurzem war jemand in diesem
Zimmer und hat etwas getrunken, denkt sie. Er hat Fleisch auf den Grill gelegt.
Doch jetzt ist er fort. Ihr Herz klopft, und sie wird das Gefühl nicht los,
dass sie beobachtet wird. Mein Gott, ist das kalt hier, sagt sie sich.
»Hallo? Ist jemand zu Hause?«,
stößt sie heiser hervor.
Ihre Füße bewegen sich wie von
selbst, als sie ängstlich weiter das Haus erkundet, und die Furcht vibriert in
ihr wie elektrischer Strom. Sie sollte jetzt die Beine in die Hand nehmen. Was
sie hier tut, ist Hausfriedensbruch. Man wird sie wegen Einbruchs drankriegen.
Sie wird Ärger bekommen. Außerdem hat sie das Gefühl, dass ihr jemand zusieht.
Sicher wird die Polizei sie festnehmen, wenn man sie hier in diesem Haus
antrifft. Doch obwohl sie es immer mehr mit der Angst zu tun kriegt, gehorchen
ihre Füße ihr nicht, sondern tragen sie weiter von Zimmer zu Zimmer.
»Hallo?«, ruft sie mit
zitternder Stimme.
Links vom Wohnzimmer geht ein
anderer Raum vom Flur ab. Sie hört Wasser plätschern.
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