Totenbuch
»Hallo!«
Zögernd folgt sie dem Geräusch.
Wie ferngesteuert setzt Madelisa einen Fuß vor den anderen, bis sie sich in
einem großen Schlafzimmer wiederfindet, das aussieht wie in einem teuren
Möbelhaus. Die Seidenvorhänge sind zugezogen. Überall an den Wänden hängen
Bilder: ein niedliches kleines Mädchen mit einer sehr hübschen, glücklichen
Frau, offenbar ihre Mutter. Das kleine Mädchen sitzt, freudig lachend, in einem
seichten Wasserbecken mit einem Welpen - dem Basset. Dieselbe hübsche Frau auf
einem Sofa im Gespräch mit der berühmten Fernsehpsychologin Dr. Seif. Sie
weint. Von allen Seiten sind große Kameras auf sie gerichtet. Wieder die
hübsche Frau zwischen Drew Martin und einem attraktiven dunkelhäutigen Mann
mit schwarzen Haaren, irgendwo auf einem Tennisplatz. Drew und der Mann tragen Tenniskleidung
und halten Schläger in der Hand.
Drew Martin ist tot. Ermordet.
Die hellblaue Bettdecke ist
zerwühlt. Auf dem schwarzen Marmorboden neben dem Kopfende des Bettes liegen
Kleidungsstücke wie hingeworfen. Ein rosafarbener Jogginganzug, ein Paar
Socken, ein BH. Das Wassergeräusch wird lauter, als Madelisas Füße darauf
zusteuern. Sosehr sie ihren Füßen auch befiehlt, in die andere Richtung zu
laufen, sie tun es nicht. Rennt!, sagt sie ihnen, als sie sie in ein mit
schwarzem Onyx und Kupfer ausgestattetes Badezimmer tragen. RENNT! Dann fällt
ihr Blick auf die nassen, blutigen Handtücher im kupfernen Waschbecken, das
blutige Sägemesser und den ebenfalls blutigen Teppichcutter auf dem Spülkasten
der schwarzen Toilette sowie auf den ordentlichen Stapel sauberer hellrosafarbener
Bettlaken oben auf dem Wäschekorb.
Der getigerte Duschvorhang rings
um die Kupferwanne ist zugezogen. Wasser läuft, doch das Prasseln klingt nicht
so, als träfe es auf Metall.
13
Es ist dunkel. Mit einer
Taschenlampe beleuchtet Scarpetta den Colt aus Edelstahl, der hinter ihrem Haus
mitten auf der Gasse liegt.
Sie hat nicht die Polizei
verständigt. Falls der Leichenbeschauer hinter diesen jüngsten finsteren
Machenschaften steckt, würde es ihre Lage nur verschlimmern, wenn sie die
Behörden einschaltet. Schließlich weiß sie nicht, wer diesem Mr. Hollings so
alles einen Gefallen schuldig ist. Außerdem ist sie nicht sicher, was sie von
Bulls Worten halten soll: Als die Krähen aus dem Baum in ihrem Garten
aufflogen, hielt er das für ein Zeichen. Und so hat er sie angeschwindelt und
gemeint, er müsse jetzt nach Hause. Doch stattdessen hat er - wie er es
ausdrückt - ein bisschen herumspioniert, sich im Gebüsch zwischen ihren
Gartentoren versteckt und gewartet. Fast fünf Stunden lang, ohne dass
Scarpetta etwas davon ahnte.
Währenddessen hat sie ihre
Gartenarbeit beendet. Geduscht. In ihrem Arbeitszimmer im ersten Stock
Papierkram erledigt. Telefoniert. Sich nach Roses Befinden erkundigt. Lucy
angerufen. Sich bei Benton gemeldet. Und die ganze Zeit über hatte sie nicht
den geringsten Verdacht, dass Bull hinter ihrem Haus Posten bezogen hatte. Er
sagt, das sei wie beim Angeln: Man finge einen Fisch nur, wenn man ihm
weismachen könne, dass man genug für heute habe. Als die Sonne unterging und
die Schatten länger wurden, saß Bull deshalb auf den dunklen, kühlen
Backsteinen zwischen den Toren - und sah plötzlich einen Mann in der Gasse. Der
Fremde steuerte geradewegs auf Scarpettas äußeres Gartentor zu und versuchte,
die Hand durch die Gitterstäbe zu zwängen, um es zu öffnen. Als das nicht
klappte, schickte er sich an, darüberzuklettern. In diesem Moment riss Bull
das Tor auf und stürzte sich auf den Eindringling. Er ist überzeugt, dass es
der Mann mit dem Motorrad gewesen ist. Jedenfalls führte der Kerl etwas im
Schilde, denn er ließ im Handgemenge den Revolver fallen.
»Bleiben Sie stehen!«, ruft
Scarpetta Bull in der finsteren Gasse zu. »Falls ein Nachbar oder sonst jemand
hier aufkreuzt, soll er unter allen Umständen Abstand halten und bloß nichts
anfassen. Zum Glück kann uns vermutlich niemand beobachten.«
Der Strahl von Bulls
Taschenlampe gleitet über das rissige Mauerwerk, während Scarpetta ins Haus
zurückkehrt und in den ersten Stock geht. Schon wenige Minuten später ist sie
wieder in der Gasse, ausgerüstet mit ihrer Kamera und ihrem Tatortkoffer.
Nachdem sie Latexhandschuhe angezogen hat, hebt sie den Revolver auf, öffnet
die Trommel, holt sechs Patronen, Kaliber achtunddreißig, heraus und verstaut
sie in einer Papiertüte. Die Waffe steckt sie in eine
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