Totenfluss: Thriller (German Edition)
nickte und eilte fort, um den Strahler zu holen.
»Wer hat diese Person gesehen?«, fragte Archie in die Menge.
Eine Frau in einer Nylonjacke hob die Hand.
Archie spürte Susan an seiner Schulter. Er fragte sich, wo Claire war, und hoffte, sie hatte den Mann im Plastik in Gewahrsam. Archie wollte nicht, dass er weglief.
»Ich habe jemanden gesehen«, sagte die Frau. Sie zeigte auf eine Stelle zehn Meter vom Flussufer entfernt. »Dort.« Archie sah nur Schwärze.
»Sind Sie sicher?«, fragte Archie. Wie jemand da draußen etwas sehen konnte, war ihm ein Rätsel.
»Es war ein Mensch, ich weiß, es war ein Mensch.« Ihre Stimme war hoch und dünn vor Hysterie. Was immer sie da draußen gesehen hatte, sie war überzeugt, dass es ein Mensch gewesen war.
Carter hatte den Scheinwerfer näher zum Flussufer geschoben.
Archie versuchte, die Geschwindigkeit der Strömung zu kalkulieren. Wenn da draußen ein Mensch war, dann war er oder sie inzwischen wahrscheinlich unter der Burnside Bridge.
»Schwenken Sie ihn hier rüber«, sagte er.
In der plötzlichen Stille schien der Regen lauter zu werden. Er prasselte auf die Öl- und Nylonjacken. Er sprang vom Beton hoch. Er lief Archie in den Nacken. Er fiel in den Fluss, immer noch mehr Wasser – es schien, als könne man dem Willamette dabei zuschauen, wie er stieg. Archie kniff die Augen zusammen. Der Fluss wälzte sich nach Norden, ein dunkler, brodelnder Strom.
Der Willamette war im Januar etwa sieben Grad warm. Bei dieser Wassertemperatur blieben einem vielleicht dreißig Minuten, ehe man bewusstlos wurde. Eine Stunde, wenn man kräftig war und Glück hatte.
Hatte die Frau wirklich etwas gesehen?
Und dann rief jemand: »Da!«
Archie riss den Kopf herum und folgte ihrem Finger, und Carter schwenkte das Licht in die entsprechende Richtung.
Da war etwas im Wasser. Ein Vogel? Nein, eine Boje? Nein. Ein Mensch. Ein Kind. Großer Gott. Ein Kind.
Ein Kind, das nach Norden trieb. Schnell.
Archie rannte an der Flutmauer entlang. Man sollte sich einem im Wasser treibenden Opfer nie ohne irgendeine Form von Schwimmhilfe nähern, ein Seil um den Leib binden, was immer. Ertrinkende reagierten panisch. Sie schlugen um sich, sie nahmen einen mit in die Tiefe. Das Kind lebte. War bei Bewusstsein. Andernfalls wäre es untergegangen. Es war keine Zeit für Schwimmhilfen oder Seile.
Susan war direkt hinter ihm, in einer anwachsenden Schar von Menschen, die alle deuteten und riefen. Archie hielt nach Claire Ausschau, konnte sie aber nicht sehen. Er zog seine Jacke aus und stopfte Ausweis, Brieftasche und Handy in ihre Taschen. Dann löste er das Pistolenhalfter vom Gürtel und schob es in die Innentasche der Jacke; er zog den Reißverschluss der Tasche zu und gab die Jacke Susan. »Rufen Sie die Notrufnummer«, sagte er. »Und verlieren Sie meine Waffe nicht.«
Dann sah er nach dem Licht. Gut. Carter hatte Ruhe bewahrt und hielt den Scheinwerfer weiter auf das Kind im Wasser gerichtet.
Archie kletterte über den Sandsackwall, orientierte sich, wo das Kind war, und sprang in den dunklen, kalten Fluss. Sobald er im Wasser aufschlug, blieb ihm die Luft weg.
9
Susan hatte Archie aus den Augen verloren.
Sie hatte mit der Notrufzentrale gesprochen, und jetzt fand sie ihn nicht im Wasser. Es war nur eine Minute vergangen. Aber es kam ihr länger vor. Sie wurde sich bewusst, dass sie Archies Jacke an die Brust drückte.
Menschen, die im Willamette ertranken, sah man normalerweise nie wieder.
Es gab inzwischen weitere Scheinwerfer. Weitere Nationalgardisten. Die Menge nahm zu, während sie sich auf der Promenade entlangbewegte, alle liefen jetzt in einem leichten Trab und hatten die Augen auf die Stelle im Wasser gerichtet, wo sich die Scheinwerfer trafen. Ein kleiner Kopf tanzte auf und ab. Gummistiefel klatschten auf das Pflaster. Nasse Öljacken quietschten. Pfützen spritzten. Die Flutmauer war an einigen Stellen höher, wo die Bauarbeiten schon weiter vorangeschritten waren, und alle mussten sich anstrengen, darüber zu sehen, ihre Köpfe gingen auf und nieder wie die von Paparazzi.
Manche Leute hatten tatsächlich schon die Kamera hervorgeholt und machten Videos von dem tanzenden Licht auf dem Wasser. Heutzutage war jeder ein Reporter.
»Er hat ihn«, rief jemand.
Susan schnürte es die Kehle zu, als sie Archie in dem Lichtkegel entdeckte.
Die Menge brach in spontanen Applaus aus.
»Er muss ihn immer noch herauskriegen«, sagte Carter leise.
Es stimmte. Sie alle sahen
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