Totenfluss: Thriller (German Edition)
junge Schwarze und eindeutig schwanger. Sie schlug die Haken zusammen und nahm Haltung an. Sie trug eine orangefarbene Weste über ihrer Umstandskleidung und hielt eine der drei Meter langen Stangen in der Hand, mit denen sie Treibgut lösten, das sich irgendwo verhakt hatte.
»Jen Auster, Sir«, sagte sie.
»Was haben Sie hier unten getan?«, fragte Archie freundlich.
»Treibgut losgemacht. Wir schieben die größeren Stämme in die Strömung, dann stauen sich die kleineren Sachen auch nicht. Damit alles schön in Bewegung bleibt.«
Der Bereich unter der Brücke war wegen der gewaltigen Brückenpfeiler massiv blockiert. Die sich drehenden zwanzig Meter langen Baumstämme und schlagenden Äste bildeten eine tödliche Falle. Es war sicher nicht einfach gewesen, eine Leiche aus diesem Wirrwarr zu bergen. Nicht bei dieser Strömung.
»Wer hat die Leiche an Land gebracht?«, fragte Archie.
»Er«, sagte Auster und zeigte auf einen schlaksigen Burschen in der Uniform der Nationalgarde, der auf sie zu trottete. Archie erkannte ihn sofort.
»Carter«, sagte Susan.
Carter grinste. »Sie haben mich hier hergeschickt, damit ich keinen Reportern begegne«, sagte er. »Ein leichter Job, hieß es. Ist wohl wirklich leichter, als Sandsäcke füllen. Ich habe ihn mit dem Lasso eingefangen.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Susan. »Sie waren nicht nur Rettungsschwimmer, sondern auch Rodeo-Reiter.«
»Ich habe einen goldenen Gürtel im Calf Roping. Bin in Pendleton aufgewachsen, dort kann man sonst nicht viel tun.«
Archie brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, er hätte die Leiche der Polizei überlassen sollen. Es wäre nett gewesen, zumindest ein Foto zu bekommen, bevor sie bewegt wurde. So waren möglicherweise Spuren verfälscht worden. Wieso konnten die Leute in dieser Stadt Leichen verflixt noch mal nicht dort lassen, wo sie lagen? Sie sollten eine entsprechende Aufklärungskampagne starten. »Sie waren ganz schön fleißig in den letzten vierundzwanzig Stunden«, sagte Archie.
»Sie aber auch, Sir. Tut mir leid, dass der Junge verschwunden ist.«
»Haben Sie ihn zugedeckt?«, fragte Susan Carter.
»Gleich, nachdem wir Sie angerufen haben«, sagte Carter. Er lächelte schüchtern. »Es erschien mir respektvoller.«
»Das war sehr nett«, sagte Susan.
Archie drehte sich zu Heil um. Die beiden Soldaten mussten befragt werden, ehe sie miteinander sprachen und ihre Erinnerungen vermischten. Auch die wohlmeinendsten Zeugen nehmen teilweise Eindrücke des anderen als ihre eigenen an, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Es geschieht unbewusst. Zwei Leute sehen einen Bankräuber. Sie reden darüber. Einer hat einen Mann in einem orangefarbenen Hemd mit Schnauzbart gesehen. Der andere hat einen Mann in einem orangefarbenen Hemd gesehen, konnte aber sein Gesicht nicht sehen. Nicht lange, und sie schwören beide Stein und Bein, dass der Kerl einen Schnauzbart hatte, und sie erzählen einem alles darüber – Form, Farbe, ob er sauber gestutzt war. Der Kerl hatte gar keinen Schnauzbart. Aber der erste Zeuge hat sich geirrt und den zweiten angesteckt.
Heil schien genau zu wissen, was Archie dachte. »Bin schon dabei«, sagte er, zog sein Notizbuch und führte Carter fort.
Archie wandte sich an Anne. Nachdem er den Beauty-Killer-Fall bearbeitet hatte, hatte er bereits mehr Leichen gesehen, als die meisten Detectives in ihrem ganzen Berufsleben zu sehen bekamen. Er hatte sich nie daran gewöhnt, aber er hatte gelernt, es weniger an sich heranzulassen. »Dann werfen wir mal einen Blick darauf«, sagte er.
»Ich dachte schon, du hast es vergessen«, sagte Anne.
»Was ist mit mir?«, sagte Susan.
Archie zögerte. Er hatte keinen Grund, Susan die Leiche sehen zu lassen. Sie war nicht einmal mehr Reporterin. Er hatte sie schon mit genug Tod konfrontiert.
»Ich habe Henry gefunden«, sagte Susan. »Vielleicht kann ich helfen. Einen Hinweis wiedererkennen oder irgendwas.«
»Also gut«, sagte Archie. Er war nicht in der Stimmung für eine Diskussion. »Versuchen Sie, auf keine Indizien zu treten.«
Sie gingen zu der Leiche, und Archie zog die Decke weg. Ein leichter Geruch von verwesendem Fleisch stieg ihnen in die Nase.
Archie hatte sehr viel schlimmere Gerüche erlebt. Die Leiche war relativ frisch. Der junge Mann sah immer noch menschlich aus. Archie sah keine unförmigen Stellen, wo sich Gase gebildet hatten. Keine bläulichen Flecken, wo sich Blut gesammelt hatte. Die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt.
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