Totenfluss: Thriller (German Edition)
es dem Täter gelingt, seinen Opfern so nahe zu kommen. Sogar Henry. Selbst wenn der Verdacht einer Vergiftung besteht. Du hattest diesen jungen Obdachlosen ausdrücklich vor einem Kraken gewarnt. Dieser Mörder fällt nicht auf, wirkt vertrauenswürdig. In solchen Fällen würden wir etwa an jemanden denken, der sich als Polizist tarnt, nur dass der Straßenjunge weder einem Polizisten noch einem uniformierten Nationalgardisten getraut hätte. Eine Frau. Die so tut, als wäre sie in Gefahr. Sie braucht Hilfe. Das Opfer eilt ihr zu Hilfe, und sie drückt ihm den Kraken in die Hand. Es ist dunkel, das Opfer nimmt das Ding reflexartig, bevor es weiß, worum es sich handelt. Es wird auf der Stelle gebissen. Das Gift dringt in seinen Blutkreislauf. Es ist orientierungslos. Der Mörder nimmt den Kraken wieder an sich. Sieht zu, wie das Opfer stirbt. Stößt es dann in den Fluss.«
»Er benutzt das Kind als Köder«, sagte Archie.
Anne nickte. »Wenn es so ist, hat der Junge mindestens vier Menschen sterben sehen. Das erklärt, warum er das Krankenhaus verlassen hat, warum er zu dieser Person zurückwollte. Er muss vollkommen abhängig sein. Und total verängstigt.« Sie überlegte kurz. »Diese Person war in Chatrooms und hat Informationen mit anderen Kopffüßer-Fans im Netz ausgetauscht«, sagte sie. »Und sie hat Aquarium-Angestellten ein Loch in den Bauch gefragt. Da ergibt sich eine Spur, ihr müsst sie nur finden.«
Chief Eaton steckte den Kopf zur Tür herein. »Die Eltern sind da«, sagte er zu Archie. »Sie möchten Sie kennenlernen.«
Archie räusperte sich. »Natürlich«, sagte er. Er stand auf und dachte, die Eltern wären unten, und er würde Eaton zu ihnen begleiten, aber als der Polizeichef die Tür ein Stück weiter öffnete, sah Archie, dass Patrick Liftons Eltern bereits hier oben waren.
Sie standen im Eingang, der Chief jetzt hinter ihnen. Sie kamen nicht herein. Sie schienen beinahe ein körperliches Misstrauen gegenüber Archie zu empfinden. Er hatte das schon öfter erlebt. Verbrechensopfer assoziierten manchmal Polizisten mit Kummer und Angst. Alles war in Ordnung gewesen, bis die Polizisten auftauchten.
»Ich bin Detective Sheridan«, sagte Archie. Er streckte die Hand aus, und Daniel Lifton ergriff sie. Er hatte einen festen Händedruck, und er sah unter dem Schirm seiner Baseballmütze hervor in Archies Augen. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, für alles, was Sie tun.«
»Ich wünschte, ich könnte mehr tun«, sagte Archie. Er streckte Diana Lifton die Hand hin. Sie nahm sie, aber sie schüttelte sie nicht. Sie hielt sie nur einen Moment lang fest. Ihre Handfläche war glatt und warm.
»Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?«, sagte sie. »Als Sie ihn gesehen haben?«
Archie wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Es war dunkel gewesen. Und Patrick Lifton war dabei gewesen, zu ertrinken. Welchen Eindruck er gemacht hatte? Verängstigt, nass und verloren.
»Er ist ein Kämpfer«, sagte Archie.
Diana nickte.
»Danke«, sagte Daniel Lifton.
Warum waren sie nicht zornesrot? Warum hatten sie Archie nicht zur Rede gestellt, wieso er ihr verschwundenes Kind gehabt hatte, nur um es allein wieder in die Nacht hinausspazieren zu lassen?
»Okay«, sagte Chief Eaton zu den Eltern. »Gehen wir.« Er sah Archie an. »Ich gebe Ihnen ein paar Minuten, sich fertig zu machen.«
Die Tür ging zu, Archie und Anne waren allein.
»Es geht mir nicht gut«, sagte Archie.
»Das habe ich auch nicht angenommen.«
Sie warteten auf ihn. Es war Zeit, die Eltern vor den Fernsehkameras paradieren zu lassen. Archies Blick fiel auf Annes Handtasche. »Pressekonferenz«, sagte er. »Hast du die richtigen Instrumente da drin, um mich einigermaßen menschlich aussehen zu lassen?«
»Mein Lieber«, sagte sie, »ich warte schon auf eine Gelegenheit, dir das Haar zu bürsten, seit wir uns kennengelernt haben.«
38
Genauso tötet man, dachte er.
Man ließ es sie langsam erfahren. Man ließ sie durch Todesangst zu Verständnis finden. Er liebte es, einen Schritt zurückzutreten und ihre Augen zu beobachten, wenn sie die erste Wirkung des Gifts spürten. Sie bekamen alle panische Angst. Taumelten. Fielen. Kämpften. Es war die menschliche Natur, zu kämpfen. Gegen das Ersterben des Lichts zu wüten. Genau, wie es in unserer Natur lag, loszulassen. Der Körper wusste, wann er den Geist aufzugeben hatte. Das Gehirn setzte Endorphine frei. Der Schmerz verschwand.
Er beobachtete, wie sich ihre Brust hob und senkte,
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