Totenfluss: Thriller (German Edition)
Zentimeter langes Stück seines Gehirns lag frei. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten. Er war tot. Archie sah sich um. Er war allein. Er ließ Careys Leiche los und sah zu, wie sie unterging und im Fluss verschwand.
56
Susan tauchte auf und schnappte nach Luft. Sie lebte. Sie war unter Wasser umhergeschleudert und um sich selbst gedreht worden, bis sie glaubte, ihre Lungen würden platzen, und sie war trotzdem noch am Leben. Luft – die feuchte, stinkende Luft einer überschwemmten Stadt – hatte noch nie so gut geschmeckt. Sie war immer noch im Wasser, aber sie schwamm. Sie konnte atmen.
Dann fiel ihr ein, was fehlte.
Wo war Patrick?
Sie hatte ihn verloren, als das Wasser sie erfasst hatte.
»Patrick?«, schrie sie. Sie paddelte hektisch im Kreis und suchte in der Dunkelheit nach ihm, rief seinen Namen wieder und wieder.
Aber er antwortete nicht.
»Archie?«, stieß sie aus.
Er war nicht da.
Sie waren beide fort.
Oder war sie diejenige, die fort war?
Sie sah sich nach Orientierungspunkten um, fand aber keine. Sie sah keine Gebäude. Regen prasselte auf die Wasseroberfläche. Verglichen mit dem Wasser, in dem sie schwamm, fühlte er sich warm an.
Die Flutwelle war immer noch in Bewegung und nahm sie mit sich. Sie konnte sie ringsum spüren, Tausende Tonnen Druck, die alle in dieselbe Richtung strömten. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie gar nicht schwamm. Sie trat Wasser, paddelte gegen die Strömung.
Die Muskeln in ihren Armen brannten bereits. Sie wurde mit jeder Sekunde erschöpfter.
Sie reckte erneut den Kopf, um herauszufinden, wo sie war. Und dann sah sie einen Schatten über sich. Eine Brücke.
Sie war mitten im Fluss.
Nun schwamm sie verzweifelt in Richtung Ufer, ausholende Armzüge, gerade Fußschläge, setzte alle Energie ein, die sie noch besaß. Sie schwamm wie eine Olympionikin. Wie Esther Williams. Aber alles, was sie an Kraft aufbot, traf auf doppelt so viel Widerstand. Die Strömung war zu stark. Sie kam nicht dagegen an.
57
Archie wankte durch das hüfthohe Wasser, rief nach Susan, nach dem Jungen, nach Flannigan. Er hustete nach jedem Namen, da allein die Anstrengung, einen Laut zu erzeugen, zu viel für seine Lungen war. Er wusste nicht, ob seine Erkältung daran schuld war oder das viele Wasser, das er eingeatmet hatte.
Die Taschenlampe war fort, genau wie seine Schuhe, mitgerissen von der Strömung. Sein Handy war tot. An manchen der Gebäude gab es außen Warnlichter, und ihr weiß-gelbes Signal beleuchtete die Szene mit ihren Lichtsplittern.
Er ging weiter. Rief weiter.
Sein Knie stieß unter Wasser gegen etwas Unbewegliches. Er streckte die Hand in das kalte Wasser und fuhr über das Hindernis. Ein einbetonierter Abfalleimer. Er sah jetzt dessen früheren Inhalt, eine Spur aus Pappbechern und roten Plastikstrohhalmen, zerknüllten Papiertüten und Wasserflaschen. Archie watete um den Abfallkorb herum und wäre an einem Randstein fast aus dem Gleichgewicht geraten. Ein Ast schwamm vorbei, und er packte ihn und tastete damit den Boden ab wie ein Blinder.
Er hätte aus dem Wasser waten können. Sich zu den Rettungsmannschaften auf der Burnside Bridge hinaufarbeiten. Hilfe holen. Aber es würde wertvolle, vielleicht entscheidende Zeit kosten.
Vermutlich hatte der Willamette sie in entgegengesetzte Richtungen gezogen. Wenn das stimmte, wenn Susan nicht in seiner Nähe war, dann war sie im Fluss.
Die Hubschrauber schwebten immer noch über ihnen, nur suchten ihre Scheinwerfer jetzt das Ufer ab. Sie hielten nach Überlebenden Ausschau.
Archie hörte Sirenen. Und er sah ein Licht, das auf dem Wasser näher kam.
Dann sah er weitere Lichter, sie glitten über das Wasser, tauchten hinter Gebäuden auf und verteilten sich.
Rettungsboote.
Das erste Boot hielt auf ihn zu, es bewegte sich in nördlicher Richtung entlang einer Route, die einmal der Naito Parkway gewesen war.
»Hier!«, rief Archie und winkte mit beiden Armen. »Hier!«
Ein Scheinwerferstrahl traf sein Gesicht und blieb auf ihn gerichtet, bis das Boot neben ihm war.
Arme griffen unter seine Achseln und zogen ihn bäuchlings in das schwarze Schlauchboot. Jemand legte eine Decke um ihn.
Als Archie aufblickte, sah er zwei Nationalgardisten in schwarzen Schwimmwesten.
»Haben Sie noch andere Leute gefunden?«, fragte Archie.
Sie schüttelten den Kopf.
Archie hustete, und als er wieder Luft bekam, schaute er in Richtung Fluss hinaus. Er wusste, wie schnell die Strömung da draußen war. Wenn Susan und
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