Totenfrau
verunsichert, überfordert mit so viel Gastfreundschaft. Keiner kannte sie, keiner wusste, wer sie war, und trotzdem lächelten sie. Blum und Karl. Er machte den Wein auf, er hörte nicht, wie Dunja flüsterte. Sie wollte wissen, warum Blum das getan hatte, warum sie sie mitgenommen hatte, warum sie nicht einfach die Augen zugemacht hatte. So wie all die anderen. Warum nicht? , fragte sie.
Blum brannte innerlich, doch sie versuchte zu lächeln. Sie schaute Dunja nur an und schwieg. Sie wollte die Wahrheit, sie wollte nicht zweifeln, keine Sekunde mehr. Sie wollte wissen, was mit Mark passiert war, sie wollte Dunja dazu bringen, zu bleiben. Ohne Worte legte sie die Nudeln ins Wasser. Dunja konnte nichts hören, nichts von dem, was in Blum vorging. Zweifel, Wut, Hass. Lautlos schrie Blum nach der Wahrheit. Wenn du lügst, dann hör auf zu lügen. Wenn du die Wahrheit sagst, dann verschwinde von hier, lass uns in Ruhe, bring uns nicht in Gefahr. Ich will, dass du endlich den Mund aufmachst, Dunja. Mach endlich dein Maul auf, ich will sehen, was da ist. Danach werfe ich dich wieder zurück ins Meer, Dunja. Ich will nur wissen, ob es sein kann. Was du sagst. Ob du wahnsinnig bist. Weil das niemals alles wahr sein kann. Niemals würde dir jemand so etwas antun. Solche Verbrechen gibt es nicht. Dunja, sag mir, dass du Mark nur benutzt hast, weil du einsam warst, weil du jemanden gebraucht hast, der dir zuhört, der dich in den Arm nimmt. Sag es mir. Alles andere ist Irrsinn. Kein Mensch könnte das ertragen. Sag mir, dass das alles nicht wahr ist. Bitte .
Dunja. Blum starrte sie an mit ihrem gequälten Lächeln. Diesem Lächeln, das wehtat, diesem Lächeln, das diese Frau dazu bringen sollte, endlich ihren Mund aufzumachen. Einem Lächeln, während die Nudeln kochten, einige Minuten lang ohne Worte, nur ihre Blicke, die sich kreuzten, sich aus dem Weg gingen, während Blum Zwiebeln schnitt. Sie wollte weinen, schreien, sich gehen lassen, sie wollte alles abschalten, Dunja, den Tag, das Leben. Einfach abschalten, während sie Tomaten in kleine Stücke schnitt. Nur kurz wollte sie so tun, als wäre alles gut, als wäre nichts von all dem passiert. Einfach nur lächeln, die Mundwinkel heben, die Lippen aufeinanderpressen, damit niemand sieht, was innen vorgeht. Wie es brannte, wie sich die Gedanken überschlugen. Weil die Vorstellung grausam war. Alles, was sie gehört hatte, was diese Frau durchgemacht hatte.
Und nun italienisches Essen. Fast war es so, als hätte Dunja immer schon am großen Küchentisch gesessen. Obwohl Blum nichts lieber getan hätte, reden sie nicht über Mark, sie reden auch nicht über das Bestattungsunternehmen, kein Wort über Tote. Sie sprechen nur über das Wetter, den bevorstehenden Herbst, über den Garten, den Karl und Reza in den nächsten Tagen winterfest machen wollen. Und über die Kinder. Uma und Nela sind neugierig, sie wollen die fremde Frau kennenlernen. Sie haben ihr alles gezeigt und ihr freiwillig ihr Zimmer überlassen. Sie haben Dunja an ihren Händen durchs Haus geführt, die neue Freundin ihrer Mutter, eine alte Bekannte ihres Vaters. Dass sie wortkarg ist, scheint sie nicht zu stören, auch niemanden sonst. Es wird gegessen und getrunken, eine Großfamilie am Esstisch. Spaghetti, Salat und Wein. Viel Wein. Nachdem Blum die kleinen Monster ins Bett gebracht hat, machen sie noch eine weitere Flasche auf, fast ist es ein schöner Abend, es ist das erste Mal seit Marks Tod, dass sie wieder zusammensitzen. Karl, Reza, fast so wie früher, herzlich, beinahe ausgelassen. Der Wein spült das Dunkel kurz die Straße hinunter, Karl erzählt sogar Witze. Bis seine Augen zugehen und er im Sitzen einschläft. Reza verabschiedet sich und bringt den alten Mann nach oben.
Seit zwei Minuten sind sie nun allein. Blum und Dunja am Küchentisch. Vor ihnen zwei volle Gläser Wein. In einem anderen Leben wäre der Tag jetzt zu Ende gegangen. Doch für die beiden geht er weiter. Noch Stunden, wenn es sein muss. Blum hat so viele Fragen, sie schreit nach so vielen Antworten, alles, was Dunja am Nachmittag gesagt hat, es füllt den Raum. Seit sie wieder allein sind, macht sie Blum Angst. Die Frage, was Dunja damit andeuten wollte. Dass es kein Unfall gewesen sei. Sondern Mord. Noch bevor sie erfuhr, dass es ein Unfall war, wusste sie es. Dass der Rover nicht zufällig aus dem Nichts gekommen war. Sie schien überzeugt davon, dass es mit Absicht geschehen war, dass sie ihn umgebracht hatten.
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