Totengeld
Ermittlungen vor Ort durchgeführt hatte, nicht Blanton gewesen. Irgendwie gab mir das mehr Vertrauen.
Während ich mich durcharbeitete, verstand ich, warum die Akte so dünn war. Als endlich ein Besuch des NCIS vor Ort arrangiert war, gab es nicht mehr viel zu untersuchen. Die Leichen waren begraben und der Schauplatz gereinigt, eventuelle Spuren waren durch das dörfliche Alltagsleben zerstört worden.
Einer der Dorfältesten lieferte dreißig M16-Patronenhülsen ab und zeigte die Stelle, wo er sie gefunden hatte. Das Ermittlungsteam fotografierte Schäden an der Stelle der Mauer, wo die raketengetriebene Granate explodiert war, sammelte Metallfragmente des Humvee, machte Teleskopaufnahmen der Einschusslöcher an der Hügelflanke und pulte eine Handvoll Kugeln Kaliber 50 aus dem weichen Fels.
Übersetzer des NCIS führten Befragungen durch, aber kein Mensch hatte die eigentliche Schießerei gesehen. Jeder Befragte erzählte dieselbe Geschichte. Die Toten waren gute Männer gewesen. Keine Aufständischen im Dorf. Kein Sprengstoff. Keine schlimmen Waffen, nur Flinten zum Schutz vor Dieben. Die Aufständischen auf dem Hügel waren gekommen und wieder gegangen. Die Marines hatten einen Jungen getötet. Sehr schlimme Sache.
Die Erlaubnis einer Exhumierung wurde wiederholt verweigert. Ohne Leichen und Zeugen blieben den Ermittlern nur der Bericht über die Tatortuntersuchung und die Aussagen der Mitglieder von Gross’ Einheit.
Wenn man die Aussagen der Marines und die Ermittlungen des NCIS aufs Wesentliche reduzierte, stachen zwei Fakten heraus. Erstens, die beiden Zeugen der Schießerei erzählten einander widersprechende Geschichten. Zweitens, die Kugeln hatten die Einheimischen entweder von vorne oder von hinten getroffen.
Ich verstand jetzt, warum die Exhumierung so wichtig war. Gleichzeitig fragte ich mich, was Gross dachte. Er kannte ganz offensichtlich die Wahrheit.
Vielleicht weil Eggers kein Interesse am Ausgang hatte, hatte seine Aussage so viel Gewicht, dass Colonel Andrews sich gezwungen sah, gegen Gross Anklage wegen Mordes und eines Offiziers unziemlichen Verhaltens zu erheben.
Ja, dachte ich, Mord ist wirklich unziemlich.
Ich las die militärischen Anklageblätter, die DD Forms 458. Das erste identifizierte den Angeklagten als Second Lieutenant John Gross und brachte Verstöße gegen UCMJ Article 118 und UCMJ Article 133 vor. Für eingefleischte Zivilisten: Wir reden hier vom Uniform Code of Military Justice, also dem »Einheitlichen Gesetzbuch der Militärgerichtsbarkeit«.
Die Spezifikationen unter 118 lauteten: »Dass in Sheyn Bagh in der Provinz Helmand in der Republik Afghanistan der Beschuldigte ungesetzlich einen afghanischen Einheimischen namens Ahmad Ali Aqsaee ermordete, indem er mehrfach mit einer automatischen Waffe vom Typ M16 auf ihn schoss.« Genannt wurden Zeitpunkt und Datum des Vorfalls.
Die Spezifikation unter 133 bezog sich auf dieselbe Zeit und denselben Ort, brachte aber vor, dass der Beschuldigte sich auf eine einem Offizier nicht ziemliche Art verhielt, indem er ungesetzlich besagten Ahmad Ali Aqsaee erschoss.
Das zweite Formular 458 brachte identische Vorwürfe bezogen auf einen gewissen Abdul Khalik Rasekh vor. Beide Formulare waren von Colonel Andrews unterschrieben.
Die Chronologie zeigte, dass, nachdem Colonel Andrews die Anklagen vorgebracht hatte, RCT -6 auf ihre Basis in Camp Lejeune, North Carolina, die Heimat der Second Marine Division, zurückversetzt wurde.
In Lejeune ernannte Colonel Andrews Lieutenant Colonel Frank Keever zum ermittelnden Beamten nach Article 32 und teilte Major Christopher Nelson als Staatsanwalt sowie Major Joseph Hawthorn als Verteidiger des Angeklagten ein.
Zwei Monate nach der Rückkehr von RCT-6 nach Lejeune eröffnete Lieutenant Colonel Keever die Anhörung nach Article 32. Die Akte enthielt eine Mitschrift des Verfahrens. Ich überflog sie.
Hawthorn beantragte eine Vertagung des Verfahrens, bis eine Exhumierung durchgeführt werden konnte. Nelson erhob dagegen Einspruch mit der Begründung, eine Exhumierung sei unwahrscheinlich. Es gab eine Diskussion, nach der Keever den Antrag ablehnte.
Der erste Zeuge der Anklage war Grant Eggers, zu der Zeit frisch aus dem Militärdienst entlassen. Seine Zeugenaussage schien mit den Angaben übereinzustimmen, die er vor Lieutenant Sharp und den Special Agents des NCIS gemacht hatte.
Um meine Neugier zu befriedigen, las ich den Teil von Hawthorns Kreuzverhör, der sich mit Eggers’
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