Totengeld
Hochfläche. Der Löffelbiskuit-Felsen.
Gestein, das mich jetzt gefangen hielt wie ein Sarg.
Wie viele Meter tief? Wie viele Tonnen schwer?
Die Panik wurde größer. Adrenalin schoss durch meinen Körper.
Atme!
Ich spannte die Hals-und Schultermuskeln an. Drückte den Kopf nach vorne, so weit es ging, und stieß ihn dann nach hinten.
Mein Schädel krachte auf Fels. Im Hirn explodierte der Schmerz.
Aber es hatte funktioniert. Ich hörte Sand rieseln, spürte minimal weniger Druck auf der Brust.
Ich atmete langsam ein. Die staubige Luft legte sich auf meine Zunge, die Kehle. Meine Lunge explodierte in keuchendem Husten. Ich atmete noch einmal. Hustete noch einmal.
Der Schwindel verging. Meine Gedanken fingen an, sich in kohärenten Mustern zu organisieren.
Schreien? Aber in welche Richtung? Wie lag ich?
War da draußen irgendjemand? War noch irgendjemand am Leben, um mich zu befreien? Waren die anderen ebenfalls verschüttet worden?
Ich blinzelte Sand aus den Augen. Sah nur tintenartige Schwärze. Hörte nur Stille. Keine Stimmen. Keine Schaufelgeräusche. Keine Bewegung.
Wieder die Panik.
Denk nach. Vergiss das Geröll. Den Staub. Die ohrenbetäubende Stille.
Ich versuchte, mich nach links zu drehen. Mein rechtes Bein klemmte fest. Ich spürte, wie sich eine scharfe Kante ins Fleisch meiner Wade drückte.
Ich versuchte, das Knie zu beugen. Heißer Schmerz schoss mir vom Knöchel hoch.
Ich versuchte, mich nach rechts zu drehen. Nichts zu machen. Meine Schulter drückte an einen Fels. Ein Fels, der Augenblicke zuvor noch über dem Friedhof gehangen hatte. Ein Fels, der mich begrub wie den Toten, den wir eben hatten wiederauferstehen lassen.
Denk nach.
Ich zwang mich zur Ruhe. Zum entspannten Atmen. Zwang die sperrige Weste, sich zu heben und zu senken.
Ein. Aus. Ein. Aus.
Ich versuchte zu schreien, aber mein Mund war zu trocken. Ich sammelte so viel Speichel, wie ich konnte, und versuchte es noch einmal.
Meine Stimme klang tonlos, gedämpft. Und wo war oben? Unten? Schrie ich in den Himmel oder in die Erde?
Meine Gedanken wurden wieder wirr. Sauerstoffmangel? Oder ein Übermaß an Kohlendioxid? Früher wusste ich die Antwort auf diese Frage. Jetzt hatte ich keine Ahnung.
Fragen tauchten auf.
Eine Mörsergranate? Eine Boden-Boden-Rakete? Von wem abgefeuert?
Was machte das schon aus?
Waren Blanton und Welsted ebenfalls verschüttet? Die beiden jungen Grabhelfer?
Ich schloss die Augen. Hörte nur das leise Zischen von Sand, das durch Risse rieselte.
Warum suchte niemand mit einer Sonde nach mir? Grub? Rief? Hatten die Dorfbewohner uns im Stich gelassen? Damit unsere Leute uns herausholten oder auch nicht?
Woran würde ich sterben? Unterkühlung? Ersticken? Wie lange würde es dauern?
Der Gedanke an den Tod erfüllte mich mit einer schrecklichen Traurigkeit. An diesem Ort, so weit weg von zu Hause, von den Menschen, die ich liebte. Katy. Harry. Pete. Ryan. Ja, Ryan.
Eine Träne rollte seitlich über meine Wange und tropfte mir auf die Hand.
Mein benebeltes Hirn schaffte eine Schlussfolgerung.
Tropfte. Schwerkraft. Ich lag auf meiner rechten Seite. Die Erde war irgendwo darunter. Geröll, Fels und Himmel waren irgendwo über meiner linken Schulter.
Ich atmete ein und tastete, wie weit meine linke Hand sich nach oben bewegen ließ.
Meine Finger strichen über kleine Oberflächen, doch Schwerkraft und Druck hielten die Einzelteile zusammen. Eine Störung des Kräftegleichgewichts konnte etwas ins Rutschen bringen, dazu führen, dass noch mehr Geröll auf mich herunterstürzte.
Wie viel Luft hatte ich? Die Felsen waren porös und höchstwahrscheinlich nicht so stark komprimiert, dass sie den Sauerstoff völlig ausschlossen. Aber wie tief lag ich vergraben? Wann würde Hilfe eintreffen? Um eine Überlebende oder eine Leiche zu finden?
Dann dachte ich nichts mehr.
Ich wachte auf. Hörte Geräusche. Wässerig, undeutlich.
Stimmen?
Ich erstarrte.
Ja. Menschliche Stimmen. Hoch und erregt.
Verzweifelt, euphorisch bewegte ich meine Hand so, dass sie den äußersten Winkel des kleinen Hohlraums vor meinem Gesicht erreichte. Meine Finger schlossen sich um einen etwa faustgroßen Stein. Mit rasendem Herzen bewegte ich ihn in dem kleinen Bogen, den der Hohlraum erlaubte, und versuchte, gegen den Fels über meinem Kopf zu schlagen.
Wie ging der Morsecode für SOS?
Mein Gott. Wen interessierte das?
Mit erbärmlich kleinen Schlägen pochte ich, wollte verzweifelt einen Kontakt mit der Außenwelt
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