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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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konnte. An den Fußweg nach Hause erinnere ich mich kaum. Ein Teil von mir hoffte tatsächlich, John Naylor würde aus einer Hecke hervorspringen, beseelt von seiner Sache und auf der Suche nach einem lautstarken Wortgefecht oder einer handfesten Rauferei, nur damit ich etwas hätte, gegen das ich mich wehren könnte.

    Das Haus war hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum, jedes Fenster strahlte, Silhouetten huschten, und Stimmengewirr strömte heraus, und einen Moment lang konnte ich es mir nicht erklären: War etwas Schlimmes passiert, lag jemand im Sterben, war das Haus in Schieflage geraten und hatte ein fröhliches, längst vergangenes Fest ans Licht befördert, wenn ich auf die Wiese trat, würde ich dann ins Jahr 1910 stolpern? Doch dann fiel das Tor scheppernd hinter mir zu, und Abby riss die Terrassentür auf, rief: »Lexie!«, und kam über das Gras angelaufen, wobei ihr langer weißer Rock flatterte.
    »Ich hab nach dir Ausschau gehalten«, sagte sie. Sie war atemlos und gerötet, ihre Augen blitzten, und ihr Haar löste sich aus den Klammern. Sie hatte offensichtlich getrunken. »Wir sind heute Abend dekadent. Rafe und Justin haben so einen Punsch gemacht, mit Cognac und Rum, und ich weiß nicht, was sonst noch alles drin ist, aber das Zeug ist tödlich , und morgen hat keiner irgendwelche Tutorien oder so, deshalb, scheiß drauf, fahren wir nicht zur Uni, bleiben die ganze Nacht auf und lassen so richtig die Sau raus. Hört sich das gut an?«
    »Das hört sich prima an«, sagte ich. Meine Stimme klang fremd, körperlos – ich brauchte eine Weile, um mich zusammenzureißen und auf sie einzustellen –, aber Abby schien es nicht zu merken.
    »Findest du? Zuerst fand ich die Idee nämlich nicht so toll. Aber Rafe und Justin hatten schon mit dem Punsch angefangen – Rafe hat irgendwas Hochprozentiges angezündet, absichtlich, hoff ich –, und sie haben mich angeschrien, weil ich immer so negativ bin. Und ich meine, wenigstens meckern sie mal nicht aneinander rum, nicht? Also hab ich mir gedacht, ach, was soll’s, tut uns bestimmt gut. Nach den letzten paar Tagen – Gott, nach den letzten paar Wochen. Wir sind alle halb verrückt geworden, hast du das gemerkt? Die Sache neulich Nacht, mit dem Stein und der Schlägerei und … Mann.«
    Etwas glitt über ihr Gesicht, wie ein rascher Schatten, aber ehe ich es benennen konnte, war es weg, und diese unbesonnene, beschwipste Heiterkeit war wieder da. »Also hab ich mir gedacht, wir toben uns mal eine Nacht richtig aus und lassen alles raus, und dann können wir uns vielleicht entspannen und wieder normal werden. Was meinst du?«
    So angeheitert wirkte sie viel jünger. Irgendwo in Franks Kriegsspieleverstand wurden sie und ihre drei besten Freunde in einer Reihe aufgestellt und begutachtet, einer nach dem anderen, Zentimeter für Zentimeter. Er taxierte sie, kühl wie ein Chirurg oder Folterer, überlegte, wo er den ersten Testschnitt ansetzen, die erste empfindliche Sonde einführen sollte. »Ich find’s super«, sagte ich. »Absolut super.«
    »Wir haben schon ohne dich angefangen«, sagte Abby und wich ein Stückchen zurück, um mich unsicher zu mustern. »Du bist doch nicht böse, oder? Dass wir nicht auf dich gewartet haben?«
    »Natürlich nicht«, sagte ich. »Hauptsache, es ist noch was da.« Weit hinter ihr überschnitten sich Schatten an der Wohnzimmerwand. Rafe bückte sich mit einem Glas in der Hand, sein Haar golden wie eine Fata Morgana vor den dunklen Vorhängen, und Josephine Baker drang aus den offenen Fenstern, lieblich und verkratzt und betörend: »Mon rêve c'était vous ...« In meinem ganzen Leben hatte ich mir selten etwas so verzweifelt gewünscht, wie ich mir jetzt wünschte, dort drin zu sein, den Revolver und das Mikro und das Handy loszuwerden, zu trinken und zu tanzen, bis mir im Kopf eine Sicherung durchknallte und es nichts anderes auf der Welt gab als die Musik und das strahlende Licht und die vier um mich herum, lachend, hinreißend, unberührbar.
    »Na klar ist noch was da. Für wen hältst du uns?« Sie fasste mein Handgelenk und eilte zurück zum Haus, zog mich hinter sich her, während sie mit der freien Hand ihren Rock über das Gras hob. »Bei Daniel musst du mir helfen. Er hat ein großes Glas, aber er nippt immer nur. Heute Abend wird nicht genippt, heute Abend wird gesoffen! Ich meine, ich weiß, er hat auch schon leicht einen sitzen, weil er auf einmal angefangen hat, eine lange Rede über das Labyrinth und den

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