Totengleich
Minotaurus und irgendwas mit Zettel aus dem Sommernachtstraum vom Stapel zu lassen, also kann er nicht mehr nüchtern sein. Aber trotzdem.«
»Na dann los«, sagte ich lachend – ich brannte darauf, Daniel mal richtig betrunken zu erleben –, »worauf warten wir?«, und wir rannten zusammen über die Wiese und stürmten Hand in Hand in die Küche.
Justin stand am Küchentisch, eine Schöpfkelle in der einen und ein Glas in der anderen Hand, und beugte sich über eine große Obstschüssel voll mit einer Flüssigkeit, die rot und gefährlich aussah. »Gott, seid ihr beide süß«, sagte er zu uns. »Ihr seht aus wie zwei Waldnymphen, genau das tut ihr.«
»Sie sind schön«, lächelte Daniel von der Tür her. »Gib ihnen ordentlich Punsch, damit sie uns auch schön finden.«
»Wir finden euch immer schön«, erklärte Abby und schnappte sich ein Glas vom Tisch. »Aber wir brauchen trotzdem Punsch. Lexie braucht reichlich Punsch, damit sie uns einholt.«
»Ich bin auch schön!«, rief Rafe aus dem Wohnzimmer über Josephine hinweg. »Kommt rein und sagt mir, dass ich schön bin!«
»Du bist schön!«, brüllten Abby und ich aus vollem Halse, und Justin drückte mir ein Glas in die Hand, und wir gingen alle ins Wohnzimmer, ließen unsere Schuhe in der Diele stehen, leckten den Punsch ab, der uns über die Finger schwappte, und lachten.
Daniel machte es sich in einem Sessel bequem, Justin lag auf dem Sofa, und Rafe und Abby und ich landeten ausgestreckt auf dem Boden, weil Sessel irgendwie zu kompliziert waren. Abby hatte recht gehabt, der Punsch war tödlich: süßes, trügerisches Zeug, das so mühelos durch die Kehle floss wie frischer Orangensaft und sich dann in eine köstliche, wilde Leichtigkeit verwandelte, die sich wie Helium in alle Glieder ausbreitete. Ich wusste, die Sache würde sich schlagartig ändern, wenn ich etwas Dummes versuchte, wie zum Beispiel aufstehen. Irgendwo im Hinterkopf hörte ich Frank mahnend irgendetwas von Kontrolle erzählen, wie die Nonnen in der Schule, die dauernd vor dem Dämon Alkohol gewarnt hatten, aber ich hatte Frank so verdammt satt, ihn und seine neunmalklugen Sprüche, und ich hatte es satt, ständig die Kontrolle zu wahren. »Mehr«, verlangte ich, stupste Justin mit dem Fuß an und hielt ihm mein Glas hin.
An große Teile dieses Abends habe ich keine Erinnerung mehr, zumindest keine klare. Das zweite Glas oder vielleicht das dritte verwandelte die ganze Nacht in etwas Weichgezeichnetes, Verzaubertes, wie aus einem Traum. Irgendwann zwischendurch ging ich unter einem Vorwand nach oben in mein Zimmer und versteckte das meiste von meinem Undercover-Zubehör – Revolver, Handy, Hüfthalter – unter dem Bett. Jemand machte die Lichter aus und ließ nur eine Lampe und die Kerzen brennen, die überall verteilt waren, wie Sterne. Ich erinnere mich an eine tiefschürfende Diskussion über die Frage, wer der beste James Bond war, die zu einer ebenso angeregten Spekulation führte, wer von den drei Jungs den besten Bond abgeben würde; an einen völlig missglückten Versuch, irgendein Trinkspiel namens »Fuzzy Duck« zu spielen, das Rafe im Internat gelernt hatte und das ein abruptes Ende fand, als Justin Punsch durch die Nase inhalierte und in die Küche flüchten musste, um alles in die Spüle zu niesen; an Lachen, so viel Lachen, dass mir der Bauch weh tat und ich mir die Finger in die Ohren stecken musste, bis ich wieder atmen konnte; an Rafes Arm um Abbys Schultern, meine Füße auf Justins Knien, Abbys Hand, die nach oben griff und Daniels festhielt. Es war, als hätte es die scharfen Kanten nie gegeben. Es war wieder nah und warm und glänzend, wie jene erste Woche, nur hundertmal besser, weil ich diesmal nicht auf der Hut war und darum kämpfen musste, mich einzufinden und keinen Fehler zu machen. Diesmal kannte ich sie alle inund auswendig, ihre Rhythmen, ihre Macken, ihre Neigungen, ich wusste, wie ich mich jedem von ihnen anpassen konnte: Diesmal gehörte ich dazu.
Am klarsten erinnern kann ich mich noch an ein Gespräch – bloß eine Abschweifung von irgendetwas anderem, ich weiß nicht mehr, was – über Henry V. Damals schien es nicht wichtig zu sein, aber später, als alles vorbei war, fiel es mir wieder ein.
»Der Mann war ein cholerischer Irrer«, sagte Rafe. Er und Abby und ich lagen wieder auf dem Boden, er hatte seinen Arm bei mir eingehakt. »Dieser ganze heroische Shakespeare-Kram war pure Propaganda. Heute würde Henry irgendeine
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