Totenhauch
einfach ganz zu meiden. Verbannen Sie solche Menschen aus Ihrem Leben.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft.
»Und wenn das nicht möglich ist …?«
»Sie können versuchen, denjenigen direkt darauf anzusprechen, obwohl ich bezweifle, dass das irgendetwas nützt. Zufällig …« Er starrte mich über den Schreibtisch hinweg an, und seine Augen waren so blutunterlaufen, dass sie im grellen Sonnenlicht rot zu glühen schienen. »… bin ich in einer ähnlichen Situation.«
»Sie haben einen psychischen Vampir?«, fragte ich erstaunt.
»Noch schlimmer. Mir wird nicht die Energie abgesaugt – es geht um mein Lebenswerk.«
»Jemand bestiehlt Sie?«
Er machte eine hilflose Geste. »Berge von Notizen, jahrelange Forschung … so langsam abgesaugt, dass ich es erst bemerkt habe, als es schon zu spät war. Jetzt haben sie alles, was sie brauchen.«
Ich schnappte nach Luft, denn der Anflug von Furcht in seiner Stimme beunruhigte mich. »Was meinen Sie damit?«
Er ließ sich sehr viel Zeit mit der Antwort. »Ich fürchte, dass der Mörder dieser jungen Frau jemand aus unseren eigenen Reihen ist. Jemand, der raffiniert ist, gerissen und unscheinbar. Jemand, den man nie verdächtigen würde …«
Meine Hand zuckte, als ich mir an den Hals fasste, wo mein Herz fast schmerzhaft zu hämmern begonnen hatte. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie wissen, wer der Mörder ist?«
Da schien er sich zu fangen und machte eine wegwerfende Bewegung mit seiner beringten Hand, als wäre das alles nur nebensächlich. Das Aufblitzen des silbernen Wappens fiel mir wieder in die Augen. Ich hatte dieses Symbol schon einmal gesehen. Ich wusste es genau … aber wo?
»Es ist nur eine Hypothese«, meinte er. »Ich weiß auch nicht mehr als das, was ich in der Zeitung gelesen habe.«
Ich wusste nicht recht, ob ich ihm das glauben sollte. »Haben Sie denn nicht mit Ethan über Ihre Hypothese gesprochen? Oder über den Diebstahl Ihrer Dokumente?«
»Mit Ethan? Nein, meinem Sohn habe ich nichts davon erzählt«, erwiderte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Dann drehte er seinen Stuhl weiter herum und starrte mit grüblerischer Miene aus dem Gartenfenster.
Schweigend verließ ich sein Büro.
Devlin hatte mir eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Er wollte, dass ich mich in Oak Grove mit ihm traf, damit wir den Friedhof gemeinsam abgehen konnten. Auf dem Weg machte ich Halt bei der Bibliothek von Emerson, um kurz im Archiv vorbeizuschauen.
Als ich über das landschaftlich gestaltete Universitätsgelände eilte, sah ich mir unentwegt über die Schulter, denn Dr. Shaws mysteriöse Warnung, der Mörder könnte einer aus unseren eigenen Reihen sein, einer, den wir am wenigsten verdächtigen würden, ging mir nicht aus dem Sinn. Selbst der Widerhall meiner eigenen Schritte auf der Steintreppe, die nach unten in die Archive führte, klang bedrohlich und unheilvoll.
Ich hatte genug Zeit im Kellergeschoss verbracht, um ganz genau zu wissen, wo die Akten und Dokumente von Oak Grove aufbewahrt wurden. Dr. Shaws Behauptung, man habe ihm seine Papiere gestohlen, hatte mich an das Kirchenbuch erinnert, das ich immer noch suchte.
Als ich mich auf den Boden kniete und mit dem Finger über einige der Kartonbeschriftungen glitt, fiel plötzlich ein Schatten über mich. Ich erschrak so heftig, dass ich auf die Fersen sackte und fast auf den Hintern gefallen wäre.
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte Daniel Meakin besorgt. »Ich wollte Ihnen keine Angst machen. Ich dachte, Sie hätten mich kommen hören.«
Ich hatte nichts gehört.
Er kniete sich neben mich, und als er die linke Hand auf einen Karton legte, um sich abzustützen, rutschte der Ärmel seines Hemdes hoch, und ich sah die Narbe an seinem Handgelenk. Doch es war nicht nur eine Narbe. Es waren lauter Furchen, die kreuz und quer über den Arm verliefen. Das war nicht nur ein einziger Selbstmordversuch gewesen. Es waren viele.
Hastig wandte ich den Blick ab. Das Licht in diesem Keller war so trüb, dass ich hoffte, er habe nicht bemerkt, wie mir der Mund offen stehen blieb und wie meine Augen sich weiteten vor Entsetzen.
Nach einer Weile veränderte er seine Körperhaltung, zog die Hand von dem Karton herunter, und die Narben wurden wieder von dem Ärmel seines Hemdes verdeckt.
»Suchen Sie immer noch nach den Namen, die zu diesen unmarkierten Grabstellen gehören?«, wollte er wissen.
»Ja. Und ich hoffe immer noch, dass ich auf weitere Dokumente stoße oder
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