Totenhauch
Augen, meine Nase und meinen Mund, aber innerlich hat sich diese Person in ein seltsames und skrupelloses Wesen verwandelt, das ich nicht wiedererkenne.
»Fahr nach Hause, Amelia.« Ich sagte das laut, weil ich dachte, die Worte hätten dann vielleicht mehr Gewicht. Nach Hause in mein abgeschirmtes, behagliches, leeres Refugium, wo ich sicher war vor Geistern und wo mein Leben von den Warnungen meines Vaters gelenkt wurde.
Aber ich ließ den Motor nicht an, ich kehrte nicht um, fuhr nicht davon in die Nacht. Stattdessen blieb ich noch eine Weile sitzen und stieg dann endlich aus.
Nachdem ich die Straße überquert hatte, stand ich am Fuß der Treppe, die zur Eingangsveranda führte, legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. Wolken zogen über den Mond, und ich spürte, dass etwas in der Luft lag. Ein Sturm kam auf. Wegen des fallenden Luftdrucks kribbelte meine Kopfhaut, und als ich die Arme hob und den Wind über mich hinwegwehen ließ, wurde mir fast schwindelig vor Erregung.
Es war ein äußerst befreiender Moment, wie ein Abstreifen, doch dann drehte ich mich zu dem Haus hin – zu ihrem Haus –, und etwas Dunkles strömte durch mich hindurch. Jemand stand am Fenster. Ein Schatten, der davonhuschte, als ich ihn sah.
Zitternd klopfte ich an die Haustür. Sie schwang auf, und zaghaft trat ich ein. »Devlin?«
Es dauerte eine Weile, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Direkt vor mir wand sich eine elegante Treppe nach oben, die auf eine breite Empore im ersten Stock führte.Hinter der Treppe öffnete sich ein breiter Flur, und rechts von mir war ein düsterer Salon.
Ich bewegte mich auf den bogenförmigen Durchgang zu und ließ den Blick über die altmodischen Möbel wandern, die sicher nicht Devlin ausgesucht hatte, und über das eindrucksvolle Porträt von Mariama über dem Kamin, das sicher er ausgesucht hatte. In der Luft hing ein zarter Duft von Salbei und Zitronenverbene – genau wie in Essies Haus –, vor allem aber der muffige Geruch von Staub, Verlassenheit und unaussprechlicher Verzweiflung.
Verschleiertes Mondlicht schien durch das große Vorderfenster, und für einen kurzen Moment sah ich Shani dort stehen, die nach draußen starrte. Ausschau hielt nach Devlin. Darauf wartete, dass er zurückkam und sich von ihr verabschiedete.
Sie war winzig klein, und ihre Aura leuchtete, aber noch während ich dastand und sie beobachtete, löste sie sich auf und war verschwunden.
Die frische blaue Farbe hatte die Geister nicht ferngehalten. Die eisige Kälte ihrer Präsenz umgab mich. Da waren nicht nur Shani und Mariama, da waren auch die Totengeister eines anderen Lebens. Die Geister einer glücklichen Familie. Der Geist des Mannes, der Devlin früher einmal gewesen war.
Ich ging rückwärts wieder in die Eingangshalle und blickte nach oben und sah plötzlich hinter der Empore ein Licht flackern. Jetzt hörte ich von dort auf einmal Musik, fremdartige Stammesklänge. Ein Trommeln, das urtümliche Instinkte weckte.
Langsam stieg ich die Treppe hinauf und rief Devlins Namen. Etwas Kaltes strich an meinem Körper entlang, wie ein Seidenkleid, das mich fast unmerklich streifte, und ich wusste, das war sie. An der Wand hing ein Spiegel, und als ich daran vorbeiging, erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild. Nur dieses Mal … Ich sah nicht meine Augen, nicht meine Nase undmeinen Mund. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich schwören können, dass es Mariama war, die mir entgegenstarrte, doch die Sinnestäuschung dauerte nur einen ganz kurzen Moment. Dann sah ich mich selbst im Spiegel. Weit aufgerissene Augen, sommersprossenübersäte Haut, ungepflegter Pferdeschwanz. Eine Verführerin stellte man sich anders vor.
Und trotzdem wurde ich mit jeder Stufe, die ich hinaufstieg, kühner, freier. Als ich auf dem Treppenabsatz angekommen war, blieb ich stehen, zog das Gummiband aus meinem Pferdeschwanz und schüttelte meine Haare aus. Mein Kopf fiel in den Nacken, und selbstvergessen wiegte ich mich im Rhythmus der Musik, der mir unter die Haut zu kriechen schien.
Die Klänge drangen aus dem Zimmer am Ende des Flurs. Die Tür stand offen, und mir war, als würde das Trommeln mit jedem Schritt, den ich näher kam, eindringlicher werden.
Der Raum selbst lag wie im Nebel und wurde von Kerzen erhellt. Es war, als würde ich in den Traum eines anderen Menschen eintreten. Der Wind, der durch die Balkontüren hereinwehte, brachte die Kerzen zum Flackern und
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