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Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Stevens
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Unterlippe, wo die tiefe Narbe sein ansonsten makelloses Profil störte. Aus irgendeinem Grund faszinierte mich diese eine Unvollkommenheit. Je mehr ich versuchte, den Blick davon loszureißen, desto größer wurde der Drang, weiter daraufzustarren.
    »Ich muss Ihnen ein Geständnis machen«, sagte ich.
    Zuerst dachte ich, er habe mich nicht gehört, aber dann drehte er sich um, und während er darauf wartete, was ich zu gestehen hatte, zog er ganz leicht eine Braue hoch.
    »Vorhin, als ich gekommen bin, habe ich zufällig gehört, wie Sie und Dr. Ashby über eine weitere Leiche gesprochen haben, die man hier gefunden hat.«
    Sein Gesichtsausdruck zeigte keinerlei Regung, doch ich spürte sein Misstrauen, wie bei einem Tier, das eine Gefahr wittert. »Und?«
    »Wann ist das passiert?«
    »Vor vielen Jahren«, gab er mir ausweichend zur Antwort.
    Sein Widerstreben, das weiter auszuführen, verstärkte meine Neugier nur. Er wusste das noch nicht, aber wenn ich mir etwas vorgenommen hatte, konnte meine Hartnäckigkeit manchmal an Besessenheit grenzen.
    »Hat man den Mörder gefasst?«
    »Nein.«
    »Ist es möglich, dass zwischen den beiden Morden eine Verbindung besteht? Ich frage das nur«, fügte ich hastig hinzu, »weil ich hier viel Zeit allein verbringe. Das Ganze ist ein bisschen beängstigend, gelinde gesagt.«
    Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, und sein ganzes Gebaren war reserviert, während er zu mir herunterblickte. »Nach fünfzehn Jahren würde ich sagen, dass eine Verbindung reine Spekulation wäre, aber ich kann Ihnen trotzdem nicht empfehlen, sich allein hier draußen aufzuhalten. Dieser Friedhof ist zwar innerhalb des Stadtgebiets, aber er ist trotzdem ziemlich abgelegen.«
    »Und Großstadtfriedhöfe, ganz besonders, wenn sie abseits des Rummels liegen, können Kriminelle anziehen wie ein Magnet«, fügte ich hinzu.
    »Ganz richtig. Haben Sie keine Mitarbeiter? Einen Assistenten oder so was?«
    »Ich bekomme jede Menge Hilfskräfte, wenn es ans Säubern geht. Bis dahin passe ich gut auf.«
    Er machte ein Gesicht, als wollte er noch etwas sagen, stattdessen wandte er sich mit einem knappen Nicken ab.
    »Kann ich Sie etwas fragen?«
    »Ja?« Wieder dieses Zögern. Dieses unterschwellige Misstrauen. »Ich habe stundenlang über Oak Grove recherchiert, aber jetzt höre ich zum ersten Mal etwas über einen weiteren Mord. Wie ist das möglich?«
    »Vielleicht haben Sie nicht an den richtigen Stellen gesucht.«
    »Das bezweifle ich. Ich lese über jeden Friedhof, den ich restauriere, alles, was ich in die Finger bekomme. Nicht nur Gemeindearchive und Kirchenbücher. Ich verbringe auch sehr viel Zeit damit, Zeitungsartikel durchzugehen.«
    »Und was soll das bringen?«
    »Das ist schwer zu erklären, aber in die Geschichte einzutauchen vermittelt mir eine einzigartige Perspektive. Bei einer Restaurierung geht es ja nicht nur darum, Unkraut auszureißen und Grabsteine abzuschrubben. Es geht um Wiederherstellung.«
    »Sie klingen ziemlich leidenschaftlich, was Ihren Beruf betrifft.«
    »Wenn ich es nicht wäre, würde ich mir einen anderen suchen. Würden Sie das nicht auch tun?«
    Sein Blick huschte über mich und wanderte zu bestimmten Stellen, sodass mir plötzlich ganz warm wurde. »Ich schätze mal, das würde ich«, murmelte er mit einer Stimme, die mich an kühle Seide erinnerte.
    »Was diese Leiche angeht   …«, half ich ihm auf die Sprünge.
    Nur widerstrebend kam er auf dieses Thema zurück. »Es hat einen Grund, dass Sie in den Zeitungen nichts darüber gefunden haben.«
    »Was für einen Grund?«
    »Gewisse Kreise, zu denen auch die Familie des Mädchens gehörte, haben sich mit vereinten Kräften bemüht, die Ermittlungen möglichst geheim zu halten.«
    »Wie haben sie das denn geschafft?«
    »In dieser Stadt geht es nur darum, wen man kennt. Ganz besonders in der Oberschicht. Die mächtigen und einflussreichen Leute bilden üblicherweise eine feste Gruppe.« Seine Stimme verriet eine althergebrachte Verachtung, und ich erinnerte mich an die Bemerkungen, die meine Tante über die South of Broad-Devlins hatte fallen lassen, jene wohlhabende aristokratischeFamilie, deren Wurzeln bis zur Zeit der Stadtgründung zurückreichten. Falls Devlin ein Cousin aus dem Armeleuteviertel war, erklärte das seine Bitterkeit.
    »Zum Zeitpunkt des Mordes waren der Polizeichef, der Bürgermeister und der Chefredakteur der größten Lokalzeitung allesamt ehemalige Studenten von Emerson«, sagte er. »Ein Mord

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