Totenklang
Polizeiterror?«, entrüste ich mich ein wenig aufgesetzt, in der Hoffnung, Kai-Uwe lässt raus, was den Dorfsheriff hindert, zum Termin zu erscheinen. Denn Kai-Uwe guckt genauso, wie er immer guckt, wenn jemand versucht hat, ihm einen Bären aufzubinden. Doch er lässt sich nicht in die Karten gucken. Er zuckt lediglich mit den hängenden Schultern, was ihn anzustrengen scheint. Das Verb ›zuckt‹ ist in dem Zusammenhang eine unpassende Beschreibung für die zähe Bewegung. Er bittet mich in einem müden Ton zu gehen, er habe noch zu tun. Noch eine Runde an Mamas Häkelkissen horchen, lästert Kalle.
Nimm das Foto von dem Alten mit, gleich, wenn der Kerl nicht hinsieht, will Kalle mich zum Diebstahl anstiften. Nein, Kalle, ich stehle nicht, lediglich mit den Augen. So, als bewege er einen Besen, fegt mich fuchtelnd Kai-Uwe zur Tür hinaus. Das wird ihn heute Morgen seine letzte Kraft gekostet haben.
19
Als ich auf dem Friedhof ankomme, ist die Trauergemeinde bereits im Begriff, die Einsegnungshalle zu verlassen. Einer nach dem anderen defiliert an dem oben offenen Sarg vorüber, wobei jeder dem toten Konditor eine Marzipanrose als Grabbeigabe auf das edle, karamell- und honigfarbene Holz seiner letzten Bettstatt legt.
»Ist das nicht ganz fantastisch?«, haucht mir Brandt plötzlich von hinten ins Ohr, was mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt.
»Wenn er das nur erleben könnte, er wäre entzückt. Wir haben wirklich alles möglich gemacht«, schwelgt Brandt weiter, um mit gesenkter Stimme fortzufahren, »nun ja, fast alles, denn eigentlich wollte der Verstorbene in seiner Backstube aufgebahrt werden, aber … Sie können sich sicherlich vorstellen …«
Ich nicke nur, und gleich darauf wird der Bestatter von der Trauerfamilie beansprucht, die voll des Lobes ist für das gesamte Arrangement. Ob man sich die blumige Dekoration mitnehmen dürfe, es sei doch viel zu schade, sie hier auf dem Friedhof zu behalten, im Laden würde sie dem guten Geist des Verstorbenen noch eine Weile Rechnung tragen. Sein letzter Gruß, sozusagen, an seine treue Kundschaft. Das sei alles gar kein Problem, versichert Brandt und winkt mich heran.
»Der Himmel wird sich darum kümmern«, sagt er, womit er mich der Familie gleich vorstellt. Also belade ich kurz darauf mit dem Schwiegersohn des Konditors den Bäckerwagen mit Gestecken. Dem Anlass gemäß verläuft die gesamte Aktion schweigend, bis die Tür des Wagens zufällt. Man lädt mich noch zu Sauerkraut und Rippchen ein. Die Leibspeise des Konditors, der das Süße verehrte, aber das Deftige liebte. Ich lehne dankend ab. Beerdigen und Essen gehört bei mir nicht zusammen. Ich kann das nicht. Trinken geht so gerade noch, aber allein schon das Wort ›Leichenschmaus‹ ist für mich ein Graus. Lichekooche, fällt mir der lokale Begriff aus meiner Kindheit wieder ein. Den trockenen Blechkuchen brachte meine Mutter häufig mit, wenn sie im Gemeindezentrum bei Trauerfeiern Kaffee ausgeschenkt hatte. Ich sollte mich dann am Streusel, Bienenstich und Rosinenkringel erfreuen, doch verweigerte das. Leichenkuchen. Keinen Bissen brachte ich davon herunter, was eine Tirade von Beschimpfungen auslöste. Undankbar sei ich und solle mal an die armen Kinder in Biafra denken. Das Denken daran machte die Sache auch nicht besser. Die Erinnerung löst zusammen mit dem Umfeld ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Dem kann nur durch Arbeit abgeholfen werden, denke ich mir und gehe zur Einsegnungshalle zurück. Es muss bestimmt gefegt werden oder dergleichen.
»Ach, da sind Sie ja«, sagt Brandt und schickt mich, Besen und Kehrschaufel zu holen. Er werde derweil den Sarg schließen. Ich werfe einen ersten Blick in des Toten Gesicht. Es sieht glücklich aus und gleichzeitig wirkt die Szenerie traurig. Das ist also alles, was von einem Menschen übrig bleibt. Fleisch und Knochen. Eine geschminkte Hülle im seidig glänzenden Etui. Ein Haufen Materie, überzogen in diesem Fall mit Marzipan.
Rammsteins ›Reise, Reise‹ reißt mich jäh aus den Gedanken. Helfried Brandt hat sich deren CD aufgelegt … ›wo die schwarze Seele wohnt, ist kein Licht am Horizont, ah, Ahoi …‹ tönt es, während er es um den Toten Nacht werden lässt, mit einem gedämpften ›Boff‹ klappt der Sargdeckel zu. Ich beeile mich mit der Fegerei, ich habe das dringende Bedürfnis, von hier wegzukommen. Nur eine viertel Stunde später finde ich mich vor dem Gräberfeld der Familie Paul Otto Jung wieder. Das
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