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Totenklang

Totenklang

Titel: Totenklang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sinje Beck
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Loch, in das die Dame gestürzt ist, ist immer noch offen. Daneben liegt eine weiße Nelke. Die war gestern noch nicht hier.
    »Sie müssen Heiner Himmel sein«, werde ich von der Seite angesprochen. Warum kommen hier alle Gespräche überwiegend von der Seite, denke ich noch bei mir und nicke automatisch, wobei ich meinen Kopf nach links drehe und einer freundlichen Frau ins Gesicht schaue.
    »Felicitas Engel. Wir haben schon miteinander telefoniert«, sagt sie und hält mir ihre Hand hin, die ich ergreife. Ihr Händedruck ist kräftig, was mich wundert, denn von Gestalt ist sie zart. Keineswegs rundlich, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie trägt ihre dunklen Haare zu einem Zopf gebunden, ihre Augen strahlen in einem interessanten Grün mit gelben Sprenkeln. Ich wundere mich selbst, dass mir das auffällt. Es muss an dieser Marmorierung liegen, die ich noch nirgends zuvor gesehen habe. Der Ausdruck ihrer Augen lässt mich an den manchmal allwissenden Blick von Katzen denken. Ich schätze sie auf Mitte dreißig. Sie ist sportlich gekleidet und durchaus attraktiv. Automatisch gucke ich auf ihre Ringfinger. Beide zieren goldene Ringe. Ob es sich dabei um unverbindlichen Modeschmuck oder verbindliches Eheeisen handelt, kann nicht bestimmt werden. Bin ich jetzt froh oder enttäuscht? Blödsinn, schimpfe ich mich. Testosteron, hört das denn nie auf?
    »Verwandtschaft?«, fragt sie mich mit einem Fingerzeig auf die Familie Jung.
    »Nein«, antworte ich einsilbig, wobei ich das im Moment genau genommen gar nicht sicher sagen kann, denn meine Oma war eine geborene Jung. Sicher ist, dass ich mir in Engels Gegenwart stetig blöder vorkomme. Nur um irgendwas zu sagen, erzähle ich ihr die Geschichte mit der alten Dame, Fräulein Hedwig, die da meinte, dass sie ihn jetzt auch geholt hätten.
    »Oh«, sagt meine neue Teilzeit-Kollegin nur und wendet sich zum Gehen.
    »Was hat sie wohl damit gemeint?«, formuliere ich laut die Frage, die mich beschäftigt.
    »Na, ich weiß ja nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, gleich am ersten Tag«, zögert sie. Wenn man es genau nähme, wäre das heute schon mein zweiter Tag, entgegne ich mit einem Lächeln.
    »Ach, es ist nur so ein Gerücht. Ich werde das besser nicht verbreiten«, sagt sie ein wenig entschlossener als eben. Nicht entschlossen genug, meint Kalle und fügt an, ich solle dranbleiben.
    »Wenn es nur ein Gerücht ist, kann ich doch entsprechend damit umgehen. Mich erst neugierig machen und dann schweigen …«, lasse ich den Satz enttäuscht und dabei herausfordernd ausklingen.
    »Okay, weil Sie ja jetzt zum Team gehören … Es soll Vorfälle gegeben haben. Vorfälle von verschwundenen Leichen. Das ist aber alles nur Gerede und betrifft die alten Gräber. Es sei beim Umbetten einer Familie aufgefallen, dass zu wenig Knochen für die Personenzahl vorhanden gewesen sein sollen. Ein Schädel habe auch gefehlt. Aber, wie gesagt, alles nur Gerede. Untersucht worden ist nie etwas.«
    »Wann war denn das?«, hake ich nach.
    »Vor einem halben Jahr ungefähr. Aber, kümmern Sie sich bloß nicht darum und lassen Sie Brandt nicht wissen, dass wir darüber gesprochen haben. Er reagiert auf so was immer sehr empfindlich.« Ich gucke Fragezeichen.
    »Helfried Brandt ist, na, sagen wir: anders. Die Leute, mit denen er sich umgibt, die er alle nach einem bestimmten Muster aussucht, sollen so sein wie er, korrigiere, sie sind wie er. Davon geht zumindest er aus. Leute wie er also beschäftigen sich nicht mit Gerüchten. Das ist ihnen zu ordinär. Er und auch wir, seine Auserwählten, stehen da drüber. So seine Philosophie. Er hat ein komplettes Bild von Ihnen, sobald er Ihren Namen hört und dem müssen Sie entsprechen, sofern Sie diesen Job behalten wollen. – Ich tu‘s jedenfalls.«
    »Sie sind also ein Engel?« In meiner Frage schwingt ein wenig provokante, aber harmlose Erheiterung mit. Ihre Augen verengen sich eine winzige Spur, was eine Verdunklung ihrer Miene hervorruft, und ich fühle mich wie ein Konfirmand, der vor dem Pastor steht und das Vaterunser nicht kann.
    »Danke für die Einarbeitung«, entgegne ich versöhnlich mit einem meiner charmantesten, entwaffnendsten Lächeln überhaupt – bildest du dir ein, kichert Kalle ungeniert. Wobei ich ihm nach einem Blick in die unglaublich grünen Augen meines Gegenübers recht geben muss. Felicitas Engel ist nicht etwa dahingeschmolzen, sondern ausgesprochen erheitert und lacht es mir ins Gesicht. Immerhin ist sie nicht beleidigt.

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