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Totenklang

Totenklang

Titel: Totenklang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sinje Beck
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Schallwellen ein Summen: ›Hänschen klein, ging allein …‹ Untermalt wird die Melodie von einem Geräusch, wie es Zahnärzte mit ihren Bohrern verursachen, wenn sie alte, spröde Amalgamfüllungen entfernen.
    Meine Linke will die Klinke drücken, mein Anstand zwingt sie in Klopfposition, der Zeigefinger gekrümmt, die Hand im passenden Winkel, um ans Holz zu pochen. Der Bohrer verstummt. Hammer und Meißel scheinen tack-tack-klopfend zum Einsatz zu kommen.
    »Himmel, tun Sie das nicht. Tun Sie sich das nicht an!« Die Engel zupft mich am Arm. Meine Güte, was hat sie mich erschreckt. Ich habe sie gar nicht kommen hören. Entgeistert starre ich sie an und frage mich im Stillen, warum man in schauerlicher Anspannung ist, wenn es um den Tod geht. Beklemmung hat mich erfasst. Wäre das hier eine Autowerkstatt, hätte ich einfach geklopft und wäre eingetreten, ohne zuvor meine Wahrnehmungsfähigkeit bis auf das Äußerste zu strapazieren, merkwürdige Erwartungshaltungen aufzubauen und unterbewusste Abgleiche mit Hitchcock-Film-Szenen durchzuspielen. Schwebte meine Hand eben über einer Klinke oder vor einem Duschvorhang? Dieses diffuse Licht hier im engen Flur ist schuld. Macht einen ja ganz kirre, finde ich eine schnelle Erklärung.
    »Ein Unfallopfer«, gibt die Engel mir als Erklärung, »übel zugerichtet, und er war noch so jung.« Ich hätte vielleicht von der Explosion in einem Metallbetrieb gehört. Das Opfer läge auf Brandts Tisch. Er sei ein Künstler, erläutert sie abwesend und führt mich durch den Flur in einen kleinen Innenhof nach draußen. Nach einem Bild des Toten würde er ihn wiederherstellen, soweit es ginge und soweit es die Verordnungen erlaubten, immer unter der Voraussetzung, so nah wie möglich am Original zu bleiben. Die Angehörigen sollen den Verstorbenen schließlich wiedererkennen. Doch, da er bei besonders schweren Fällen niemanden dabeihaben wolle, wisse sie nicht, wie er das mache, wenn der Tote zum Beispiel einen Schädeltrümmerbruch oder Gesichtsverbrennungen aufweise. Bestimmte Mängel übermalen, nähen, stopfen, herrichten eben, das könne sie auch, aber darüber hinaus habe sie wenig Erfahrung. Mal sei es dem Chef gelungen, einem Brandopfer die verschmurgelte Nase wiederherzustellen. Da war vorher nichts mehr, kein Knorpel, kein Fetzchen. Herrschaftswissen, sozusagen, das hüte er wie ein Pater das Beichtgeheimnis. Brandt sei dabei, seine Kenntnisse in der Thanatologie zu erweitern. Modern Embalming.
    Sie scheint sich in Geplapper zu flüchten. Die Sicherheit der Routine. Ich beobachte sie und meine zu spüren, wie es in anderen Teilen ihres Gehirns arbeitet. Der Teil, der mit den Erinnerungen an Richy verbunden ist und der Teil, der nicht wahrhaben will, was sie soeben erfahren hat. Koordiniert wird das zweifelnde und schmerzhafte Hin und Her zwischen den Synapsen durch den präfrontalen Kortex, der ihr Selbstwirksamkeitskonzept aufrecht erhält. Noch.
    »Ich glaube, er sollte Arzt werden, wie sein Vater, oder ein berühmter Musiker, seine Mutter war eine gefragte Flötistin, doch er hat es nicht gepackt«, beendet sie das Gespräch über ihren Chef. Sie tritt durch eine kleine Tür, die in ein größeres Tor eingelassen ist. Ich folge. Wie ein Lemming flammt blitzartig ein ungewollter Gedanke in mir auf, bevor er von einer Wolke dunkler Vorahnung verdrängt wird. Da wird was auf mich zukommen. Im Artikel über die Funktionen des Gehirns in einer Zeitschrift, die ich in der Tanke las, stand, dass bei hohen Erregungszuständen das Frontalhirn ausfalle und die Kindheitsmuster griffen, die sich vor dem Kortex entwickelt hätten. Wann wird sie die Nerven verlieren?

27
    »Das Sarglager«, sagt sie monoton und fügt fast murmelnd an:
    »Was wollte ich denn jetzt hier?« Sie sinkt auf einen knallroten Designersarg, der durch stromlinienförmige Flanken auffällt. Modell Lebensfluss, entnehme ich einem Lieferschein. Der Engel fängt leise zu weinen an. Ihre Atmung ist kurz und flach. Hatte ich schon durchscheinen lassen, dass ich in derlei Situationen eher unbeholfen bin? Hämmern, Bohren, Fräsen, Verputzen, klemmende Toilettenspülungen reparieren, alles kein Problem, aber Tränen trocknen?
     
    Zum Glück ist sie nicht hysterisch. Sie sitzt nur da auf dem glänzend lackierten Sargdeckel, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen und weint. Ich setze mich still neben sie. Ruhige Präsenz zeigen hat mir schon einmal in einer ähnlichen Situation geholfen.

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