Totenklang
Türverkleidung bleibt an ihrem Bestimmungsort.
Eine stattliche Frau öffnet die Tür des nicht minder stattlichen Hauses. Sie füllt fast den Rahmen aus, trägt gelbe Gummihandschuhe und einen Putzlumpen in der linken Hand. Darüber hinaus trägt sie einen gewaltigen Busen und spricht mit russischem Akzent. Frau Fischbach sei oben. Wir gehen durch ein sehr gepflegtes Treppenhaus, das den Charme der Siebzigerjahre versprüht. Zitronenfrische überlagert den Geruch seit langem leer stehender, ungeheizter Räume. Eine schwere Eichentür steht einen Spalt breit offen. Das Messingschild mit schwungvoller Schrift darauf verrät: Privat.
Unserem Klopfen folgt ein vornehm klingendes: Ja, bitte. Die Wohnung ist geprägt von wenigen dunklen Schränken und schweren Orientteppichen. Hier war mal viel Geld, bemerkt der Advokat beim Blick in die offenen Zimmer. Am Ende der Diele sehen wir die alte Dame vor dem Fenster sitzen, immer noch hinausschauend. Erst als wir quasi vor ihr stehen und uns vorstellen, blickt sie zu uns auf. Ihre Augen erinnern mich an einen hauchdünn zugefrorenen See, unter dessen Eis das Grün noch zu erahnen ist.
»Besuch, wie schön«, sagt sie, »aber setzen Sie sich doch. Entschuldigen Sie, aber ich kann Sie im Moment nicht einordnen. Sagen Sie, woher kennen wir uns? Entschuldigen Sie!« Jetzt steht sie auf, geht kerzengerade zur Tür und ruft:
»Natalia, bitte Tee für unsere Gäste!« Was immer Natalia auch entgegnet hat, ist nicht zu hören. Lediglich das Ins-Schloss-Fallen der Haustür bemerken wir.
An den cremefarbenen Wänden hängen überall Zirkusfotos. Dieses Zimmer weicht stark von den restlichen Räumen ab. Es hat fast keine europäischen Möbel. Im Raum verteilt sich ein Sammelsurium von Kunst und Kitsch, aufgelesen auf mehreren Kontinenten. Afrikanische Masken, eine Wasserpfeife, Blechschilder amerikanischer Biermarken, ein Fransenkleid mit Federboa auf einer alten Schneiderpuppe, eine fein geschnitzte spanische Wand aus dunklem Holz und die kolonialen Korbsessel, auf denen wir sitzen.
»Tut mir leid, das mit dem Tee«, entschuldigt sich die alte Dame, als sie uns gegenüber wieder Platz nimmt und uns zunächst ein wenig fragend ansieht, um dann an einem mit Spitze bestickten Taschentuch zu zupfen.
Felicitas stellt uns vor, nennt den Grund unseres Kommens, wobei sie sehr einfühlsam ist und den Tod Reginald Schusters verschweigt. Beim Namen des alten Clowns huscht ein verklärtes und gleichzeitig trauriges Lächeln über ihr faltiges Gesicht, das, wie wir auf dem Foto gesehen haben, einmal sehr schön gewesen sein muss. Wir zeigen ihr das Bild aus Richys Brieftasche.
»Oh«, sagt sie verzückt, »das wurde vor ein paar Jahren in Berlin aufgenommen, in der Zone, nach unserer ersten Begegnung.« Spontaner Blickwechsel von Felicitas und Heiner, gegenseitig, gleichzeitig, tief in die Augen und die Erkenntnis: Demenz.
Nach einer Tournee mit der tollkühnen und zauberhaften Artistin Lilli vom Bayerischen Wald über Birmingham bis nach Boston fallen wir einigermaßen geschlaucht in die Sportsitze meines Franzosen.
Wir müssten sie nun entschuldigen, sie müsse ihre Übungen machen. Schöne Grüße sollten wir Richy ausrichten, er solle sich beeilen, sie säße auf gepackten Koffern, wie so oft in ihrem Leben. Dabei blickte sie versonnen. Und hinter der spanischen Wand standen tatsächlich zwei große Reisekoffer mit schweren Beschlägen und dicken Ledergurten. Ja, wir würden es ihm sagen, versicherte Felicitas. »Er kommt, nicht wahr?«, hatte die alte Dame noch an der Tür gefragt und wir winkten knapp zum Abschied.
33
»Sie scheint alleine zu leben«, sagt Felicitas, während sie mit dem doppelt verdrehten Anschnallgurt ringt.
»Ich habe auch keine Bilder von Kindern oder Enkeln entdeckt. Neben ihren Artistenfotos gab es nur eines mit einem schwarzen Band. Schätze, dass es sich dabei um ihren Mann gehandelt hat«, bemerke ich und starte den Motor, den ich ein wenig bei Laune halten muss, darauf wartend, dass sie sich angegurtet hat. Unbedingt Werkstatt aufsuchen, notiere ich auf meine Liste der Dinge, die zu tun sind, sobald ich sie mir leisten kann.
Ich fahre ein raumgreifendes Wendemanöver, was nicht etwa daran liegt, dass ich es nicht besser kann, sondern daran, dass der Kleinwagen einen Wendekreis wie ein Tanker hat. Die Rückfahrt nach Siegen verläuft schweigend. Felicitas ist tief in Gedanken versunken und ihr Gesicht hat wieder diesen traurigen Ausdruck
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