Totenmal
nachmittags ein Klassentreffen und würde schon um diese Zeit mehrere Biere und Schnäpse intus haben. Er würde nicht vor Mitternacht zurückkehren. Sie zog sich ein paar alte Klamotten an und Einmalhandschuhe über.
Sie schloss die Haustür zweimal ab, legte die Riegel vor, schaltete die Alarmanlage der Haustür ein und stieg in den Keller hinab. Sie kniete sich vor einer alten Kommode hin und langte mit dem Arm suchend darunter, bis sie einen Zipfel des vergammelten Segeltuchs zu fassen bekam, in dem die Holzschatulle mit der Pistole lag, und es hervorzog. Sie legte alles zusammen auf die Kommode, klappte den Deckel der Schatulle auf, wickelte die Waffe aus dem Wachstuch und öffnete die Schachtel mit den Patronen. Es war eine Walther PPK aus dem Zweiten Weltkrieg, die ihr ihr Onkel, Torsten Bordevig, geschenkt hatte, kurz bevor er an Magenkrebs starb. Er hatte keinen Sohn. Seine Tochter hatte sich schon seit Langem von ihm abgewandt.
Niemand wusste von dieser Waffe. Ihr Onkel hatte zwar eine gültige Waffenbesitzkarte für die Pistole besessen, aber die war ausgestellt worden, als es noch keine behördliche Verknüpfung zwischen dem Ableben des Waffeninhabers und der Waffenbesitzkarte gab. Deshalb hatte niemand die Erben des Torsten Bordevig gefragt, wo seine Walther PPK sei.
Ihr Onkel hatte sie oft zur Jagd nach Kotzenbüll auf Eiderstedt mitgenommen und ihr gesagt, sie hätte das Zeug zu einer guten Jägerin. Er hatte ihr manchmal auf den Po geklopft, wenn er sicher war, dass ihn niemand beobachtete. Aber dabei war es geblieben.
Ihre Eltern hatte es nicht besonders interessiert, dass ihre Ãlteste mit Onkel Torsten zur Jagd ging. Andrea hatte sich vor ihr geekelt.
Es sei waidgerecht, ein nur verwundetes Tier mit der Pistole zu töten, hatte ihr Onkel gesagt, und seine Jagdkameraden hatten ihm zugestimmt. Er hatte ihr das SchieÃen beigebracht, und einmal hatte sie einen Rehbock von seinen Qualen erlösen dürfen. Das Einzige, was sie dabei gefühlt hatte, war ein Gefühl der Macht. Aber die verzerrten Gesichter der Männer beim Häuten der getöteten Tiere, das Ausbluten, die Geräusche und der Gestank hatten sie abgestoÃen. Das Töten bei der Jagd hätte doch gereicht, sagte sie sich, als sie die Pistole jetzt in ihren Händen hielt. Sie erschrak über diesen Gedanken, als sie die Parallele zum Mord an Peter Arens bemerkte. Männer machten immer aus allem eine Religion mit Ritualen.
Die Pistole sollte sie stets an die gemeinsame Jagdzeit erinnern, hatte er gesagt, als er ihr die Holzschatulle in seinem Kanzleizimmer eines Tages nach einem Gespräch über den Beruf des Rechtsanwaltes unvermittelt übergeben hatte. Seit den Tagen der Jagd hatte sie mit der Waffe nicht mehr geschossen. Nur die Handhaltung und die Bewegungen mit der schweren Waffe übte sie einmal im Jahr heimlich im Keller. Sie hatte mehrfach erwogen, irgendwo im Wald SchieÃübungen zu machen. Vielleicht zur Jagdzeit. Aber die Schüsse dieser Pistole hörte man kilometerweit. Das wusste sie, weil die Jagdkameraden ihres Onkels alle die gleiche Pistole hatten. Onkel Torsten hatte ihr gesagt, dass sie auch noch nach vielen Jahrzehnten funktionierte, solange sie immer eingeölt blieb und im Wachstuch eingewickelt in der Holzschatulle gelagert wurde.
Auch heute sah die Pistole noch genauso aus wie damals, als sie sie das erste Mal in die Hand nahm. Das Gefühl der Macht spürte sie immer noch, jedes Mal, wenn sie die Pistole in die Hand nahm und ihre stillen SchieÃübungen machte. Zwei Patronen legte sie während der Ãbungen auf das Brett eines Kellerregals, das ungefähr in zwei Metern Entfernung rechts von ihr stand. So konnte sie der Versuchung widerstehen, sie zu laden. Diese stillen SchieÃübungen waren ein mentales Training. Wenn sie etwas sah, meinte sie immer, es beherrschen zu können, ohne dass das andere, sei es Mensch oder Ding, Macht über sie ergreifen konnte. Wenn etwas nur in ihren Gedanken und Gefühlen war, hatte sie oft die Kontrolle verloren. So wie damals, als sie Benny begegnet war, damals bei der Aktionsveranstaltung von Andreas Umweltorganisation.
Oft hatte sie sich gefragt, warum ihr Onkel ihr diese Waffe eigentlich geschenkt hatte. In seinem Testament war sie schon reichlich bedacht worden. Um einen Vermögenswert war es ihm also bei der Pistole nicht gegangen, sie war ein Sammlerstück, aber nicht von
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