Totenmesse - Patterson, J: Totenmesse - Step on a Crack
die Phasen im Sterbeprozess: Nichtwahrhabenwollen, Zorn, Verhandeln, Depression und Zustimmung.
»Ich glaube, ich stecke noch in der Zornphase«, erwiderte ich.
»Da müssen Sie raus, Mike.« Sally klang verärgert. »Ich will Ihnen was sagen. Ich habe hier Fälle gesehen, die mich - ich schäme mich, das sagen zu müssen - überhaupt
nicht berührt haben. Ihre Frau gehört nicht zu diesen Fällen. Sie müssen stark sein für Maeve. Es ist Zeit, die Sache zu akzeptieren. Ach, und Mike, schicker Ohrring.«
Ich schloss meine Augen und spürte, wie ich vor Wut und Verlegenheit rot wurde, während Sally davonmarschierte. Der Schmerz hatte etwas Nichtendenwollendes. Er schien unglaublich stark zu sein, als würde er wie eine Bombe aus meiner Brust herausplatzen und die Welt und das gesamte Leben darauf auslöschen.
Er verging einen Moment später, als ich hörte, wie in einem der anderen Zimmer ein Fernseher eingeschaltet wurde.
Anscheinend dreht sich die Welt doch noch weiter, dachte ich, als ich meine brennenden Augen öffnete und Richtung Fahrstuhl ging.
80
Ich rief zu Hause an, als ich das Krankenhaus verließ und zu meinem Wagen eilte. Julia meldete sich.
»Wie geht’s Mom?«, erkundigte sie sich.
Bei Verhören in Mordfällen ist Lügen manchmal eine überzeugende Taktik, um ein Geständnis zu erwirken. Jetzt war ich froh, dass ich über genügend Übung verfügte.
»Sie sieht toll aus, Julia«, log ich also. »Sie lässt dich grüßen. Dich ganz besonders. Sie ist so stolz, wie du dich um deine Schwestern kümmerst. Das bin ich übrigens auch.«
»Und wie geht’s dir, Dad?«, fragte Julia weiter. War die Leitung gestört, oder hörte ich äußerst reife Besorgnis aus der Stimme meines Schatzes heraus? Mir fiel ein, dass sie im kommenden Jahr auf die Highschool gehen würde. Wie konnte mein kleines Mädchen nur schon fast erwachsen sein, ohne dass ich es mitbekommen hatte?
»Du kennst mich, Julia«, antwortete ich. »Solange ich nicht völlig durchgedreht bin, geht’s mir ziemlich gut.«
Julia lachte. Sie hatte in meiner klassischen Komödie, Papas völliger Zusammenbruch, immer in der ersten Reihe gesessen.
»Weißt du noch, als sich auf dem Weg in die Poconos alle gestritten haben und du mir gesagt hast, ich soll die Augen schließen und aus dem Fenster schauen?«, fragte Julia.
»Ich wünschte, das könnte ich vergessen«, antwortete ich lachend. »Wie läuft’s daheim?«
»Die Schlange derjenigen hinter mir, die mit dir reden wollen, ist ziemlich lang.«
Während ich durch die kalten Straßen der Stadt fuhr, erzählte ich kurz jedem meiner Kinder, wie sehr ihre Mutter und ich sie liebten. Ich entschuldigte mich, weil ich weder zu ihrem Krippenspiel noch Heiligabend nach Hause kommen konnte. Ich hatte schon öfter an den Feiertagen arbeiten müssen, doch immer waren entweder Maeve oder ich bei ihnen gewesen. Wie üblich wurden die Kinder gut damit fertig. Chrissy schniefte, als ich sie am Telefon hatte.
O je, was war denn das?
»Was ist los, Schätzchen?«, fragte ich.
»Daddy«, schluchzte Chrissy. »Hillary Martin hat gesagt, der Weihnachtsmann kommt nicht zu uns nach Hause, weil wir keinen Kamin haben. Ich will, dass der Weihnachtsmann kommt.«
Ich lächelte erleichtert. Maeve und ich hatten diese Klage schon zweimal gehört und uns eine Lösung ausgedacht.
»Ach, Chrissy«, sagte ich mit gespielter Panik. »Danke, dass du mich daran erinnerst. Wenn der Weihnachtsmann nach New York kommt, landet er, wenn es in einem Haus keinen Kamin gibt, mit seinem Schlitten auf dem Dach und steigt die Feuerleiter hinab. Jetzt tust du mir aber einen richtig großen Gefallen, ja? Sag Mary Catherine, sie soll das Küchenfenster nicht verriegeln. Vergisst du das auch nicht?«
»Ich sag’s ihr«, antwortete Chrissy atemlos.
»Moment noch, warte, Chrissy.« Ich drehte den Polizeifunk lauter. »Oh, wow! Ich habe gerade einen offiziellen Bericht von unserem Polizeihubschrauber gehört. Der
Weihnachtsmann nähert sich schon New York. Schnell! Geh ins Bett, du weiß doch, was passiert, wenn er kommt und die Kinder noch wach sind, oder?«
»Dann geht er wieder«, antwortete Chrissy. »Tschüs, Daddy.«
»Mr. Bennett?«, hörte ich kurz darauf Mary Catherine am anderen Ende.
»Hallo, Mary«, grüßte ich sie. »Wo ist Seamus? Er hätte Sie schon ablösen sollen.«
»Hat er. Er hält Hof im Wohnzimmer und liest ›Bald ist Weihnachten‹ vor.«
Diese Geschichte vorzulesen war immer meine Aufgabe
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