Totenmesse - Patterson, J: Totenmesse - Step on a Crack
geworfen. Ein schwerfälliger Kanalarbeiter machte bei einer blassen Frau mittleren Alters Mund-zu-Mund-Beatmung, bevor sie ihn mit steifen Armen wegstieß.
Ich erkannte sie, es war die Modezeitschriftenredakteurin Laura Winston. Eine junge Frau neben ihr begann, sich über sich selbst zu übergeben. Die Reality-TV-Puppe Linda London.
Etwa eine halbe Stunde später bekam ich einen Anruf von Commander Will Matthews. Alle restlichen Geiseln waren aus dem East River gezogen worden. Sie waren verletzt und durchnässt und standen noch unter Schock, aber alle hatten offenbar überlebt.
Die Geiselnehmer allerdings wurden an beiden Stellen vermisst! Ob sie in den Fahrzeugen ertrunken oder noch in der Kathedrale waren, musste überprüft werden. Bevor ich auflegte, trug Will Matthews mir auf, mich zum Unfallort beim Autohändler zu begeben, um zu sehen, was dort los war.
Warum nicht?, dachte ich, als ich mit zitternder Hand einem Sergeant sein Mobiltelefon zurückgab. Schließlich wollte ich an diesem Vormittag noch etwas Aufregendes erleben.
Zumindest hatten es alle geschafft, dachte ich und ging zum Dock zurück. Außer den Leuten natürlich, die in der Kirche ermordet worden waren.
Ich wollte diesen kleinen Sieg als Beruhigung nutzen, aber es klappte nicht.
Während ich dem Hubschrauber hinterherblickte, der die gekräuselte, graue Wasseroberfläche absuchte, stieß mir Jacks Versprechen, das er gleich am Anfang dieses Martyriums gegeben hatte, sauer auf.
Er hatte gesagt, er werde entwischen. Und das war ihm geglückt.
98
An einem verlassenen Dock gleich nördlich des neuen Sportzentrums Hell’s Kitchen, zwanzig Straßenblocks südlich von der Stelle, an der die Hälfte der Fahrzeuge ins Wasser gefahren war, tauchte eine schwarze Gestalt zwischen den verrottenden Pfählen auf.
Die Augen nur knapp über der Wasseroberfläche, ließ Jack vorsichtig seinen Blick über den gekräuselten Hudson hinter sich gleiten. Keine Boote der Hafenpolizei zu sehen. Und ebenso wichtig: Auch am Ufer neben dem Sportkomplex war niemand.
Er griff unter seinen Taucheranzug und holte eine Reißverschlusstüte heraus. Aus dieser zog er das Mobiltelefon und drückte die Wahlwiederholung, während er das Mundstück seiner Sauerstoffflasche herausnahm.
»Wo?«, fragte er.
»Sie konzentrieren sich noch auf die Unfallstelle und retten die Geiseln«, antwortete der Saubermann. »Sie haben noch nicht angefangen, nach euch zu suchen. Das Zeitfenster ist offen, mein Junge, aber es schließt sich. Bewegt euch!«
Das brauchte Jack nicht zweimal zu hören. Er schob das Telefon zurück in die Tüte und glitt in das trübe Wasser, wo er sich am Seil vorwärtszog.
Fünf Minuten später standen Jack und vier weitere Geiselnehmer auf einer Betonplattform unterhalb der Promenade südlich des Sportkomplexes, zogen die Taucheranzüge aus, die sie unter ihren braunen Roben getragen hatten,
und stellten die Sauerstoffflaschen auf den Boden. Es waren kleine Flaschen, aber der Sauerstoff hatte für die zehn bis fünfzehn Minuten gereicht, die sie unter Wasser bleiben mussten.
Der gefährlichste Teil war der Aufprall auf dem Wasser gewesen. Aber der Rest - die Flucht aus den Fahrzeugen und die Suche nach den Sauerstoffflaschen - war wie geschmiert gelaufen. Sie hatten nicht nur die größte Geiselnahme aller Zeiten hinter sich, auch die Flucht war das Genialste, was die Welt je gesehen hatte!
Und das war nicht allein sein Verdienst, dachte er.
Seine Blödmänner hatten es geschafft, die Sache nicht zu verpatzen. Er war stolz auf sie. Doch zum Feiern war keine Zeit. Sie mussten nach Queens und den Rest der Mannschaft holen, die in den East River gefahren war. Hoffentlich hatten sie genauso viel Erfolg gehabt.
Jack blickte zum befahrenen West Side Highway hinauf. Lächelnd stellte er fest, dass sein Puls raste. Er hatte schon einiges erlebt, aber nichts im Vergleich zu dem, was bei ihm diese Euphorie auslöste. Nichts kam dem auch nur nahe. Hätten sie nicht Fontaine und José verloren, wäre alles perfekt gelaufen.
Er drehte sich um, wo auch der Letzte aus seiner Mannschaft den Taucheranzug abstreifte. In ihren Trainingsanzügen, die sie darunter trugen, sahen sie aus wie alle anderen, die aus dem Sportzentrum kamen. Yuppie-Angestellte, die beschlossen hatten, Weihnachten mit Sport und Party statt mit ihren bescheuerten Familien zu verbringen.
»Okay, Ladys.« Jack zwinkerte seinen Männern zu. »Nichts wie weg hier. Wir sind fast zu Hause. Wir
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