Totenmesse - Patterson, J: Totenmesse - Step on a Crack
eine Heilige.« Seamus machte eine Pause. »Ich bin gleich wieder da. Ich brauche etwas frische Luft.«
Ich glaube, mein Herz war noch nicht ganz gebrochen, weil ich spürte, wie in meiner Brust etwas wie eine Gitarrensaite zerbarst, als Maeve Chrissy und Shawna auf ihren Schoß hob.
Ich blickte zur Decke hinauf. Die Geschichte meiner Familie könnte ein neuer Feiertagsklassiker werden, dachte ich voller Selbstmitleid. Weihnachten auf der Sterbestation.
Das war nicht fair. Maeve hatte immer regelmäßig Sport getrieben, sich ordentlich ernährt, nicht geraucht. Ich biss
mir auf die Lippen, um den unerträglichen Druck in meiner Brust auszuhalten. Ich wollte - musste - mir die Seele aus dem Leib schreien.
Doch etwas Seltsames passierte, nachdem mein Sohn Brian ihr aufs Bett geholfen und das Video mit dem Krippenspiel eingelegt hatte - Maeve begann zu lachen. Kein höfliches, leises Kichern, sondern lautes, nach Atem schnappendes Lachen. Ich trat neben sie, und ihre Hand fand meine hinter der Wand unserer Kinder.
Die nächsten zwanzig Minuten verschwand das Krankenhauszimmer, und wir hätten genauso gut auf unserem ramponierten Sofa zu Hause sitzen und ein Spiel der Yankees oder einen unserer alten Lieblingsfilme ansehen können.
Meine sinnlose Wut explodierte in schallendem Gelächter, als der Hirte Eddie auf halbem Weg die Bühne hinauf über seinen Stab stolperte.
»Echt toll, wie ihr das gemacht habt!« Maeve hielt ihren Kindern die Hand zum Abklatschen hin, als das Band zu Ende war. »Die Bennetts ernten stürmischen Beifall. Ich bin so stolz auf euch.«
»Aber, aber, was ist denn das für ein Rabatz in diesem Zimmer?«, kicherte Seamus, der gerade zurückkam.
Maeve strahlte, als er sanft ihre Hand nahm und küsste. »Fröhliche Weihnacht«, wünschte er und schob heimlich und mit einem Zwinkern eine goldene Schachtel Schokolade hinter ihren Rücken.
Es sah aus, als hätte jemand das Krankenhausbett in die Papierwarenabteilung eines Kaufhauses geschoben, nachdem die selbstgemachten Geschenke und Weihnachtskarten ausgeteilt worden waren. Julia und Brian traten mit einer schwarzen Samtschachtel vor. Als Maeve sie öffnete,
schien ihr Lächeln stark genug zu sein, um die Krankheit für immer aus ihrem Körper zu vertreiben. Sie hatte eine dünne, goldene Halskette bekommen. Auf dem Anhänger stand »Unsere Mama - die Nr. 1«.
»Wir haben alle was dazugelegt«, erklärte Brian. »Alle, auch die Kleinen.«
Sie küsste ihn auf die Wange, als er ihr die Kette umlegte.
»Ich möchte, dass ihr weiterhin alle was dazulegt, Kinder.« Maeve lehnte sich zurück, bemüht, ihre Augen offen zu halten. »Wenn viele Hände helfen, wird’s leichter, und wenn wir von einer Sache viel haben, dann sind es Hände. Kleine Hände und große Herzen. Dad wird euch später zeigen, was ich für euch habe, Kinder. Fröhliche Weihnacht. Vergesst nie, ich liebe euch.«
101
Seamus nahm die Kinder mit nach Hause, so dass ich noch bei Maeve bleiben konnte. Aus unerfindlichen Gründen fühlte ich mich plötzlich stark, ruhig und völlig wach. Ich schloss die Zimmertür, setzte mich hinter Maeve ins kalte Bett und nahm sie in die Arme. Nach einer Weile ergriff ich ihre Hand und blickte auf die Stelle, an der sich unsere Ringe berührten.
Ich schloss die Augen und sah Maeve vor mir, wie ich sie in der Notaufnahme des Krankenhauses umworben hatte. Auch damals hatte sie immer die Hand von jemandem gehalten. Schwarz, weiß, gelb, braun, jung, alt, verrückt, verstümmelt, blutend. Ich dachte an all die Herzen, die sie in ihrem Leben gestärkt hatte. Meins am meisten. Und die unserer zehn Kinder.
Als ich mich gegen Mitternacht erhob, um mich zu strecken, riss Maeve ihre Augen weit auf und drückte meine Hand.
»Ich liebe dich, Mike«, presste sie über ihre Lippen.
O Gott, nicht jetzt, dachte ich. Bitte, nicht jetzt!
Ich griff zum Knopf, um die Schwester zu rufen, doch Maeve schlug meine Hand fort. Eine Träne rann an ihrem angespannten Gesicht hinab, während sie den Kopf schüttelte.
Dann lächelte sie.
Sie blickte in meine Augen, als könnte sie dort einen fernen Ort sehen. Ein neues Land, in das sie reisen würde.
»Sei glücklich«, sagte sie.
Dann ließ sie meine Hand los.
Ihre Fingerspitzen, die ein letztes Mal über meine Handfläche glitten, gaben mir das Gefühl, dass irgendwo in mir etwas zerbrach und sich eine Leere auftat.
Ich fing Maeve auf, als sie nach hinten kippte. Sie war so leicht. Ihr Brustkorb hob sich
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