Totenmesse - Patterson, J: Totenmesse - Step on a Crack
darauf zu lesen.
Das berüchtigte Sing Sing.
Ich stieg aus. Eiseskälte schlug mir entgegen, die die Gefängnismauer auszustrahlen schien. Mich fröstelte noch mehr, als ein bewaffneter Aufseher auf der Miniausführung eines Flughafenkontrollturms seine Sonnenbrille in meine Richtung schwenkte. Der Lauf seiner M16, die über seiner Brust hing, schien kilometerweit der einzige glänzende Gegenstand zu sein.
Die ganze Zeit über waren wir umhergerannt und hatten versucht, die Geiselnehmer in den Knast zu bringen, dachte ich mit Blick über den Kiesparkplatz vor diesem Hochsicherheitsgefängnis. Und dabei waren sie schon hier.
Die Fingerabdrücke des im Autohaus verstorbenen Geiselnehmers hatten zu José Alvarez gehört, einem Aufseher, der bis vor sechs Monaten in Sing Sing gearbeitet hatte.
Ein Anruf beim Gefängnisdirektor hatte ergeben, dass sich in der Woche der Geiselnahme ein Dutzend Männer der Drei-bis-elf-Uhr-Schicht krankgemeldet hatte.
Plötzlich ergab alles einen Sinn - Tränengas, Gummigeschosse und Handschellen, der Straßenjargon vermischt mit halbmilitärischer Terminologie. Wir hatten die Antwort direkt vor unserer Nase gehabt, doch um sie zu enthüllen, hatte es Reverend Solstices Misstrauen und der Erinnerung eines Gefangenen in Rikers namens Tremaine Jefferson bedurft, der zuvor in Sing Sing gesessen hatte.
Gefängniswärter waren ebenso wie Polizisten in der Lage, mit Menschenmassen umzugehen und sie professionell zu beherrschen. Und sie waren zu effizienter Gewalt fähig.
»Bereit, Mike?«, fragte Steve Reno, der vor ein Dutzend Polizisten der Spezialeinheit trat.
»Ich bin seit dem Morgen bereit, an dem ich zur St. Patrick’s Cathedral kam.«
Unsere Verdächtigen waren im Gefängnis und hatten Dienst. Um sie zu verhaften, mussten wir hineingehen, ins Zentrum des Bösen. Gewöhnlich versuchen Polizisten ein Gefängnis zu meiden wie der Teufel das Weihwasser, doch jetzt konnte ich es kaum abwarten hineinzugelangen. Vor allem war ich scharf darauf zu sehen, welches Gesicht zu diesem großspurigen Schwätzer gehörte. Ich stand vollkommen unter Strom.
Obwohl ich den Eindruck hatte, der Wind, der das Wasser aufwühlte, fege mit einer Geschwindigkeit von drei Mach über uns hinweg, lächelte ich. »Schauen wir uns diesen Jack an«, sagte ich.
110
Wir mussten eine mit Stacheldraht überdachte Fußgängerbrücke überqueren, um zum Haupttor von Sing Sing zu gelangen. Obwohl niemand von uns besonders glücklich darüber war, mussten wir unsere Waffen am Schalter zum Arsenal abgeben, bevor der Türsummer betätigt wurde - aber in Hochsicherheitsgefängnissen sind nun mal keine Waffen erlaubt.
»Die Männer, die sich gesammelt krankgemeldet haben, wurden bereits in den Gegenüberstellungsraum bestellt«, meldete Clark, der Gefängnisdirektor, der uns in dem düsteren Flur vor seinem Büro erwartete.
Auf dem Weg nach unten drangen Schreie aus Clarks Funkgerät. Clark hob sein Funkgerät an, um besser hören zu können.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Block A«, erklärte er. »Viel Gebrüll wahrscheinlich um nichts. Unsere Gäste beschweren sich immer über den Service.«
»Sind Sie sicher, dass alle Männer aus der Schicht da sind?«, fragte ich ihn vor der Tür zum Gegenüberstellungsraum, deren Fenster mit Drahtgeflecht verstärkt war.
Clark blickte aufmerksam durch das Fenster auf die nervös wirkenden, uniformierten Aufseher.
»Ich glaube, ja. Moment, nein«, korrigierte er sich. »Sergeant Rhodes und Sergeant Williams. Die beiden Schichtführer. Sie sind noch nicht da. Wo, zum Teufel, stecken sie?«
Die Schichtführer, dachte ich. Das klang ja wie Bandenführer. Mir fiel der Funkspruch ein, den der Direktor gerade erhalten hatte.
»Lassen Sie mich raten«, sagte ich. »Die Schichtführer sind in Block A eingesetzt?«
Clark nickte. »Unser Hochsicherheitstrakt.«
»Dort müssen wir hin«, drängte ich. »Sofort.«
111
Wie die Ermittlungen selbst schien in Sing Sing alles bergauf zu gehen. Hinter Gefängnisdirektor Clark und einem halben Dutzend seiner vertrautesten Wärter rannte ich endlose Betonstufen und schräg ansteigende Flure hinauf, an denen die Farbe von den Wänden abblätterte, bevor wir vor einer Stahltür landeten.
Nach einem schroffen Summen ertönte ein metallisches Klicken, als würde der Hammer einer nicht geladenen Waffe auf die leere Patronenkammer treffen.
Auf dem Weg durch die riesige Eingangshalle, von der mehrere Zellenblöcke abgingen, spürte ich
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