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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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hatte, zeigten ein hübsches kleines Haus auf einer Anhöhe nicht weit vom Meer. Er musste zugeben, dass es mindestens so anziehend wirkte wie das auf Chios. Doch Fotos waren eine Sache, die Wirklichkeit war eine andere.
    Dass das Leben so gut sein kann, dachte er und drückte sie an sich.

35
    Samstag, den 3. Oktober 1942,
    acht Uhr vierundzwanzig morgens
    Es ist nicht wahr. Acht Uhr vierundzwanzig ist nur eine Vermutung. Aber die Dämmerung ist da, das könnte dazu passen, wie die Zeit einmal aussah. Das Licht sickert herein. So dass ich schreiben kann. Es wird wohl jetzt ein bisschen mehr geschrieben werden. Für eine Weile auf jeden Fall. Ich bin im Limbo. In einem angehaltenen Todesaugenblick. Er kann natürlich jede Sekunde enden.
    Es ist etwas Merkwürdiges mit dem Tod. Man ist so lange mit ihm umgegangen, man glaubt, ihn durch und durch zu kennen. Und doch überrascht er einen. Es ist wohl so: Man kann ihn nie kennenlernen. Nicht auf dieser Seite des Lebens.
    Aber ›auf dieser‹ ist nicht korrekt. Ich bin auf keiner Seite des Lebens. Auf keiner Seite des Todes.
    Es gibt im Augenblick nichts Besseres zu tun, als mit dem Anfang zu beginnen. Mit dem allerersten Anfang. Wenn ich es niederschreibe, beginne ich vielleicht selbst daran zu glauben. An mein Schicksal zu glauben.
    Es war gestern Abend wohl schon elf Uhr geworden, bevor wir die Bestätigung erhielten, dass unser Auftrag, die Front zu verlagern, will sagen die Nachbarruine einzunehmen, stimmte. Wir wussten, dass uns dort Infanteristen, Scharfschützen und möglicherweise auch Artillerie erwarteten. Ich lese auf der vorigen Seite des Tagebuchs, dass ich die Wartezeit mit Schreiben verbrachte. Aber erinnern kann ich mich nicht. Das gehört einem anderen Leben an. Einer anderen Art von Leben.
    Ich dachte: ›Die Feder nieder und das Schwert gezogen.‹ Ich hörte Maxim Kuvaldins Stimme in gebrochenem Deutsch flüstern: ›Es gibt eine Alternative.‹ Aber ich wusste nicht, was er meinte. Im gleichen Moment waren wir draußen. Die Stadt war schwarz wie Pech, wenn auch die ganze Zeit erleuchtet von unablässig da und dort aufblitzenden Explosionen. Die Stadt brüllte jetzt in der Nacht ebenso laut wie am Tag, es war kein Unterschied.
    Wir liefen geduckt im geschlossenen Trupp. Ein Junge fiel neben mir, von der Kugel eines Scharfschützen getroffen. Er fiel einfach, ohne einen Ton. Sie fielen um mich her, ich lief weiter. Wir waren immer weniger, die weiterliefen, während die Kugeln um uns her pfiffen. Es gab keine echte Überlebenschance.
    Wir näherten uns der Ruine eines kleineren Wohnhauses. Ein Loch klaffte zum Keller hinab. Das Haus sah wie eben gesprengt aus. Und dann begriff etwas in mir, dass es genau das war. Eben gesprengt. Von einer Bombe oder Granate, der weitere folgen würden.
    Ich weiß nicht, warum ich reagierte. Ich erinnere mich nicht, ob ich wirklich dieses Pfeifen hörte, das der Explosion vorausgeht. Etwas in mir hörte es. Ich warf mich in das Kellerloch. Und dann explodierte die Welt. Die Ruine stürzte über mir zusammen, Steine, Eisenrohre fielen über mich. Staub, Erde. Ich war in mein eigenes Grab gesprungen.
    Das Brüllen ging weiter, aber ich starb nicht. Oder doch? Alles war reines Hören. Kein Sehen, kein Fühlen. Nur ein Schrei aus dem Innern der Erde.
    Und dann wurde es still. Vollkommen still.
    In dem Augenblick wusste ich, dass ich tot war.
    Vermutlich verging Zeit. Irgendwo. Aber nicht hier.
    Es war pechschwarz. Ich habe vieles erlebt, aber nie eine solche Schwärze. Man kann sie nicht einmal in Begriffen wie hell und dunkel denken. Sie war absolut.
    Ich muss mich aufgerichtet haben, muss in meinem Rucksack getastet und die Taschenlampe hervorgeholt haben, muss in die Schwärze geleuchtet haben. Und alles wurde anders. Von Neuem. Ich befand mich in einem Keller. Über mir lag eine massive Trümmerdecke. Ein paar Balken waren über Kreuz gefallen und hielten die ganze Ruine darüber. Und im Fußboden unter mir war eine Luke, sie war unter einem schweren Schrank verborgen gewesen, der jetzt in Trümmern dalag. Dem Inhalt des zerstörten Schranks nach zu urteilen – Geschirr und Besteck in großen Mengen – war dies der Keller eines Restaurants. Ich öffnete die Luke. Sie führte hinunter in einen Keller unter dem Keller. Ich kletterte hinab.
    Und fand das Paradies.
    Das heißt: reihenweise

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