Totenmesse
Anderson aufgeblüht war, gab ihr zu besonderer Freude Anlass. Und dass aus Anderson und Chavez in Nybergs Abwesenheit ein gut funktionierendes Team geworden war. Jorge war nach dem Vaterschaftsurlaub mit ungebrochener Energie zurückgekommen â allerdings auch gezeichnet von den persönlichen Komplikationen des letzten Falls. Seinen E-Bass hatte er weggepackt. Nie wieder âºThe Policeâ¹ war alles, was er jemals zu der Angelegenheit geäuÃert hatte. Seine Tochter Isabel hatte jetzt einen Platz im Tagesheim, und ihre Mutter Sara Svenhagen hatte mit Lena Lindberg die Hoffnungen auf ein kompetentes weibliches Duo eingelöst, das den alten Füchsen Söderstedt-Norlander weder in puncto Cleverness noch in puncto Härte nachstand. Während eines kürzlich abgeschlossenen Falles mit zwei nordfinnischen Zuhältern, die baltische Prostituierte für mörderische Sexualrituale verkauften, hatte die dem äuÃeren Anschein nach süÃe Lena Lindberg derartig gewalttätige Tendenzen an den Tag gelegt, dass der König der Internermittler Paul Hjelm seine alten A-Gruppen-Korridore wieder einmal besuchte und dort herumschnüffelte. Als er hörte, worin die Rituale bestanden, legte er â nach einem längeren Gespräch mit Lena unter vier Augen, über das Stillschweigen bewahrt wurde â den Fall unverzüglich zu den Akten. Trotz der Geheimniskrämerei sah Kerstin Holm ein bisschen klarer, was Lena Lindberg während ihrer zehn Jahre bei der Einsatztruppe der City-Polizei getrieben hatte.
Tatsache war, dass der letzte groÃe Fall während des vergangenen Mittsommerfests bei beiden Neulingen deutliche Spuren hinterlassen hatte. Beide waren zu Opfern gewaltsamer Angriffe geworden, Jon Anderson war niedergestochen und Lena Lindberg auÃer Gefecht gesetzt worden, wenn auch nur mit Schlafmittel. Beide waren ihren Trieben gefolgt, und beide hatten sich verändert. Andersons Veränderung war von der positiven Art, aber Lenas war schwerwiegender.Sie war von einem Mann, dem sie ihr Vertrauen und fast ihre Liebe geschenkt hatte, grob getäuscht worden â und sie war verbittert. Ihre gewalttätige Neigung wuchs.
Zumindest Männern gegenüber.
Und Gunnar Nyberg war ein Risiko eingegangen. Das war das Tragische in diesem Zusammenhang. Der groÃe Fall vom Mittsommer letzten Jahres hatte bei allen Spuren hinterlassen, doch was Nyberg betraf, schien sein Interesse an polizeilicher Arbeit erloschen zu sein. Er sprach von vorzeitiger Pensionierung und plante mit seiner Ludmila tatsächlich ein Leben am Mittelmeer.
Wenn sie sich einigen konnten, wo dort â¦
Erst jetzt spürte Kerstin Holm ihre Rückenschmerzen. Sie saà vorn an dem alten Katheder, verdreht wie ein Scheuerlappen, um das Fernsehbild sehen zu können. Es gab zwei Lösungen des Problems: 1.) Sie konnte das Fernsehen abbrechen und die verspätete Morgenbesprechung beginnen. 2.) Sie konnte zwischen den Untergebenen Platz nehmen und mit geradem Rücken weitergucken.
Sie wählte: 3.) Sitzen bleiben und sich quälen.
Die laufenden Fälle waren nicht dringlich genug, um Bushs ständig wiederholte Tiraden zu unterbrechen.
Der Fall der nordfinnischen Zuhälter mit den mörderischen Sexualritualen war abgeschlossen, für einen von ihnen endete er im Rollstuhl, und von den übrigen Fällen â einer Blutfehde zwischen zwei italienischen Kneipenwirten auf Kungsholmen, einer traditionellen rassistischen Körperverletzung auf Söder und einer U-Bahn-Schlägerei zwischen Jugendbanden unterschiedlicher ethnischer Herkunft â war nur graue Alltagsroutine zu erledigen. Sie konnte sich nicht vom Fleck bewegen. Sie warf einen Blick auf die Gruppe, die sich zu Paaren angeordnet hatte â Jon und Jorge, Sara und Lena, Arto und Viggo â, wie in einem Kindergottesdienst in den Fünfzigerjahren. Mit der gleichen nach vorn gerichteten Aufmerksamkeit.
Die aber nicht ihr galt.
Also war Punkt 3 angesagt.
Ein paar Sekunden lang. Dann geschah Folgendes: 4.) Das Telefon klingelte.
Das Telefon in der sogenannten Kampfleitzentrale klingelte höchst selten. Zweimal war es vorgekommen, seit die A-Gruppe existierte, und beide Male war ein Mitglied der Gruppe dem Tod so nah gewesen, wie man ihmnur kommen kann. Zuerst Viggo Norlander in Tallinn, dann Jon Anderson in Poznan.
Kriminalkommissarin Kerstin Holm nahm
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