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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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ihren Namen schreiben zu müssen. Die Einsicht, dass Paul ihre Handynummer nicht hatte – oder dass sie sogar aus seinem Bewusstsein gelöscht sein konnte.
    Aber mit ihrem Namen starb die Sprache.
    Sie lag zwischen den Kundensofas – das Gesicht an der Todeskälte des Marmorfußbodens, ein Bein in einem komischen Winkel wie festgefroren auf einem der Sofas. In dieser Lage trickste sie Buchstaben auf ihr Handy, stellte den Ton auf Null, schickte die SMS lautlos ab – und verlor die Sprache.
    Es ist klar, dass sie etwas gedacht haben musste, als Glassplitter und Deckenteile auf sie herunterregneten, als es sich anfühlte, als hätten die Schusssalven die Trommelfelle in den Raum gerissen, als die Welt bebte. Es ist klar, dass ihre Gedanken strömten, als sie mit den Angestellten und den anderen Kunden zusammengepfercht wurde. Es ist klar, dass sie auf den unverkennbaren Gestank von Urin und Scheiße reagiert haben musste, als sie durch eine Art Flur und einen Büroraum in einen sterilen Raum mit einer Menge Schließfächer getrieben wurde.
    Nurdass ihre Gedanken eben nicht aus Worten bestanden.
    Machte das die Gedanken unklarer? Im Gegenteil, fand sie. Sie besaßen eine große Klarheit. Sie meinte die Prozesse zu erkennen – Argumente, Schlussfolgerungen, Entscheidungen, Überlegungen, Gefühle –, alles war da, aber wortlos. Es war sehr eigenartig. Als wäre es trotz allem nicht die Sprache, die uns zu Menschen machte.
    Was ließ die Sprache zurückkehren? Sie wurde berührt, vielleicht war es das. Angefasst. Der größere der beiden Bankräuber kam und tastete ihren Körper ab, klinisch, gefühllos. Er nahm ihre Handtasche und das blaue Paket mit Tovas Geburtstagskleid und warf sie auf einen Haufen. Sein Atem war scharf, schwer, obwohl er durch die Maske gefiltert wurde. Dass sie in seinen Augen ein Gegenstand war, keine Frau, war beruhigend und beängstigend zugleich.
    Und ihm entging ihr Handy. Sie hielt es in der erhobenen Hand, und er sah nicht in die Hand. Sie war zwar fest geschlossen und das Handy ziemlich klein, aber er hätte es sehen müssen. Sie wusste nicht, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war – auf jeden Fall war es ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass er kein Profi war. Und das war seltsam, denn alles wirkte professionell. Gut vorbereitet. Als er sie zu Boden drückte, bekam sie das Handy unter einen Schenkel. Das Erste, was sie dachte, als ihre Sprache zurückkehrte, war: die Prinzessin auf der Erbse.
    Die Bankräuber hatten angefangen, die Eingangstür zu verbarrikadieren und Sprengladungen an den Wänden anzubringen. Anschließend sprayten sie schwarze Farbe auf die Fenster zum Karlavägen, holten weitere Schusswaffen aus einer Sporttasche und verteilten die Geiseln. Sie wurden in verschiedene Räume gesetzt, ihre Hände wurden mit Handschellen an den Wänden befestigt, bis noch zwei übrig waren, die zwei, die der Tür im Raum mit den Schließfächern am nächsten saßen. Da gingen ihnen die Handschellen aus. Der kleinere Räuber schimpfte kurz mit dem größeren, es war wohl Russisch. Dann wurde die Sache nicht mehr erwähnt. Die maskierten Männer sprachen überhaupt wenig miteinander.
    Eine der beiden Geiseln ohne Handschellen war Cilla. Stattdessen bekam sie die kalte Drohung zu hören: »Move an inch and you’re dead.«
    Sie wusste, dass sie neun Geiseln waren. Im Raum mit den Schließfächern waren sie vier: ganz hinten ein Mann und eine Frau, die zum Bankpersonal gehörten, sie waren mit Handschellen angekettet, drei Meter voneinander entfernt; weiter vorn saß eine ältere Frau, die deutlich nach Urin roch und ununterbrochen weinte, und noch ein paar Meter näher an der massiven, aber offenen Tür saß Cilla. Sie hatte fast freie Sicht nach links in den größeren Büroraum, in dem die Bankräuber sich die meiste Zeit aufhielten, und weniger freie Sicht nach rechts zum Schalterraum, in dem eine junge Bankangestellte mit gefesselten Händen nahe der Eingangstür saß wie eine Art erster Schutzwall. Sie schluchzte; Cilla sah sie von hinten, halb sitzend zwischen den Glassplittern auf dem Fußboden, die Arme in einer offenbar unerträglichen Stellung schräg nach oben gedreht. Cillas medizinische Erfahrung sagte ihr, dass die Frau bald ohnmächtig werden würde.
    Sie wusste nicht

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