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Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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manche Geräusche und ließ andere wiederum unnatürlich laut erscheinen. Wie in einem schallisolierten Tonstudio, dachte der Mann. Wie in seinem eigenen Aufnahmeraum, wo er die Videos zusammenschnitt und seine Podcasts für die Internetsendungen aufnahm. Ein Hobby von ihm.
    Er hörte eine Kirchenglocke schlagen. Es war bereits nach Mitternacht. In der Manteltasche strich sein Daumen über die geriffelten Griffschalen des Rasiermessers. Er verwendete die Klinge für die ersten Schnitte. Für alles Weitere benutzte die Bestie ihre Krallen.
    Die Hand löste sich vom Rasiermesser und ertastete das Handy. Nahm es hervor, schaltete den Ruhemodus aus. Nun sah er das Foto von ihr. Er hatte es bei der Polizeiübung mit Zoom aufgenommen und nachträglich bearbeitet. Es war nicht das beste aller Porträts, wirkte ein wenig verwischt. Er erkannte einen überheblichen Zug an den Mundwinkeln. Die fast schwarzen Augen blickten ihn hellwach an. Aber auch ein wenig traurig. Sie sahen aus, als kannten sie die Farbe der Tränen. Sie hatten schon viel gesehen und bei manchem lieber weggeschaut. Ihr Blick war abschätzend. Forschend. Erkennend. Vielleicht verstehend. Er steckte das Telefon wieder ein.
    Der Mann machte einen kleinen Sprung, überquerte damit die Bordsteinkante. Er ging über die Straße und blieb vor einem Mehrfamilienhaus stehen. Davor parkte ein Minicooper. Er wusste, wessen. Natürlich wusste er das.
    Sein Blick wanderte nach oben, wo er im Dachfenster noch Licht sah. Er überlegte, was sie dort oben wohl trieb. Ob sie seine Botschaft schon verstanden hatte. Wie dem auch sei: Er wusste, dass sie auf der Fährte war. Aber ein kleiner zusätzlicher Anstoß konnte nicht schaden. Deswegen war er hier. Er ging zu den Briefkästen, nahm aus der linken Manteltasche die Lederhandschuhe heraus und zog sie über. Dann fasste er nach dem Briefumschlag und hielt einen Moment inne.
    Was wäre, wenn sie bereits alles begriffen hatte? Wenn sie längst auf ihre Beute lauerte, um sich in einem überraschenden Moment auf sie zu stürzen. Ihn zu packen, zu zerfetzen, weil sie sein Blut gewittert hatte. Weil sie nicht anders konnte. Weil sie wie er tun musste, wozu sie geschaffen war. Weil sie eine Jägerin war …
    Oder auch nicht. Möglicherweise schnallte sie überhaupt nichts und war am Ende nicht mehr als alle anderen: Fleisch für den Gott.
    Nun, dachte der Mann, es würde sich zeigen. Er öffnete die Klappe mit der Aufschrift »Stietencron« und warf den Umschlag hinein. Dann kehrte er auf dem Absatz um und sah noch einmal zum Dachfenster hinauf.
    Ich bin ihr dunkler Schatten, dachte er.
    Der Mann lächelte, senkte den Kopf, atmete tief ein und dann mit einem Seufzer wieder aus. Das Spiel begann, ihm Freude zu machen.

22.
    E s war früher Morgen. Fast noch dunkel. Alex rannte wie um ihr Leben.
    Die Luft stach mit jedem Atemzug wie ein Stilett in ihre Bronchien. Das Klopfen im fest bandagierten Knöchel hielt sich hingegen in Grenzen. Der Schnee knirschte im Takt unter ihren Laufschuhen. Als es leicht bergauf ging, fühlten sich die Beine an wie nasse Schwämme, die sich mit heißem Wasser vollgesogen hatten.
    Alex’ Rhythmus wurde ungleichmäßig. Der Puls pumpte das Blut mit Hochdruck durch ihre Adern. Pause, dachte sie. Pause, schrie es in ihr. Doch Alex lief weiter wie eine Maschine. Automatisch, machtlos gegen sich selbst und einzig getrieben vom Willen. Meter um Meter zwang diese unsichtbare Kraft ihren Körper voran.
    Als Alex die Steigung überwunden hatte und der Weg sich wieder wie eine mit dem Lineal gezogene Linie zwischen den Bäumen verlor, war der tote Punkt überwunden. Die Schwere wich Leichtigkeit. Das High kam. Der Moment, in dem der Körper auf pures Endorphin umschaltete und Alex mit körpereigenen Drogen versorgte. Es war der Moment, den Alex so liebte am Laufen, der sie in den Zustand lupenreiner Klarheit und Kraft versetzte – in eine Leere, in der sie allein war mit sich selbst. Es war wie Meditation. Dazu die Luft im Wald. Der reine weiße Schnee. Keine Ablenkung.
    Alex warf einen Blick auf die Uhr und bog vom Waldweg ab in eine Seitenstraße. Die Lampen der Straßenbeleuchtung gingen gerade aus, und die Stadt begrüßte den Tag.
    Mütter mit Kindern, die für den Kindergarten gepackte Rucksäcke trugen, kamen aus Einfamilienhäusern und verschwanden in Minivans, SUVs oder Kombis. Auf dem Bürgersteig wich Alex einigen Mülltonnen aus, die auf die Abfuhr warteten, und schwenkte auf die Hauptstraße

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