Totenmond
ein, die sie tiefer in die Stadt führte.
Das Weiß des Waldes wich matschigem Grau. Die Lieferwagen von Paketdiensten hielten vor Geschäften. An ihren Radkästen klebte der verkrustete Schnee wie Schwalbennester. Busse der Stadtverkehrsgesellschaft waren unterwegs, orangefarbene Streufahrzeuge ebenfalls. Der Lkw eines Möbelunternehmens hupte, als Alex vor ihm über die bereits Gelb zeigende Ampel huschte. Dann bog sie in ihre Straße ein, lief an dem kleinen Kiosk vorbei, an dem sich bereits morgens Menschen in Trainingsanzügen und Mänteln aus der Altkleidersammlung trafen, um ihre in der Nacht leergelaufenen Alkohol-Tanks aufzufüllen. Sie passierte die Bäckerei, aus der es immer so gut nach frischem Brot roch und in deren Schaufenster Knusperhäuschen aus Lebkuchen standen.
Wie jeden Morgen verlangsamte Alex an dem modernen Neubau des Ärztehauses an der Ecke den Schritt, in dem auch Dr. Pfeiffer seine Praxis hatte, hielt dann vor »Erwins Weindepot« die Arme hoch in die Luft, um sie bis zum Stellplatz ihres Minis schlackern zu lassen, zog den Schlüssel aus der engen Laufhose, die Zeitung und die Post aus dem Briefkasten und schloss die Tür des Mehrfamilienhauses auf.
Im Flur atmete sie tief aus, schlüpfte aus den Schuhen, um in dem hell gefliesten Treppenhaus keine Schneematschspuren zu hinterlassen, und nahm die Treppenstufen bis zum Dachgeschoss im Eiltempo. Bevor sie die Nikes parallel nebeneinander auf der Fußmatte mit dem Schriftzug »Willkommen« abstellte, nahm sie einen Lappen und wischte die Sohlen trocken. Dann faltete sie den Lappen zweimal, legte ihn auf den Schuhen ab und öffnete die Wohnungstür, hinter der sie die Heizungswärme wie ein Geliebter umschlang.
Mit einem »Mmmmmrrrrrrrr« kam Hannibal vom Fensterbrett aus angeschossen, strich Alex um die Beine und verdiente sich damit ein »Naaa, mein Dicker?«.
Alex legte die Zeitung auf dem rustikalen Küchentisch aus geölter Kiefer ab, plazierte die Post daneben und schaltete den Kaffeeautomaten ein. Auf dem Weg ins Badezimmer pellte sie sich aus ihren verschwitzten Sportsachen, die mit einem schwungvollen Wurf zu einem Bündel zusammengeknüllt in der Waschmaschine landeten. Sie stellte die Dusche an und trat unter den dampfenden Strahl und ließ das Wasser einige Minuten lang auf ihre Haut prasseln, bevor sie zu Duschgel und zu Haarwaschmittel griff.
Sie seifte sich ein und musste unwillkürlich an Sonntagabend denken. An Jan. Ob er in ihrer Abwesenheit angerufen hatte? Vielleicht eine SMS? Nein, natürlich nicht. Es war noch früher Morgen. Unsinn. Gestern hatte er auch schon keine SMS geschickt. Wahrscheinlich würde er sich niemals melden.
Sie stellte das Wasser ab, schlüpfte in den weißen Frotteemantel, griff sich ein Handtuch und ging in die Küche, wo der Raum mit duftendem Kaffeeduft angefüllt war. Alex rubbelte sich die Haare trocken, verknotete das Handtuch zu einem Turban und schaltete das Radio ein. Last Christmas von Wham. Dann sortierte sie mit der freien Hand die Post.
Immobilien-Werbung, ein Brief von der Krankenkasse, der Flyer eines neuen Pizza-Bringdienstes und ein weißer Umschlag. Alex drehte und wendete ihn, entdeckte aber weder Adresse noch Absender. Mit dem Fingernagel öffnete sie die Papierhülle und zog daraus einen Zettel hervor. Offenbar ein Computerausdruck. Alex trank einen Schluck Kaffee, der sich in ihrer Speiseröhre heiß den Weg nach unten bahnte. Auf dem Zettel standen zwei Sätze.
»Die Brustwarzen und ein paar andere Dinge behalte ich. Sie sollten es langsam ernst nehmen.«
Alex’ Magen zog sich schlagartig zu einem kleinen Ball zusammen. Sie musste sich setzen. Ihre Hand zitterte.
Seit ihren Medienauftritten hatte sie diverse anonyme Briefe und Mails von Durchgeknallten erhalten, die sich wichtigmachen wollten. Sie bezeichneten sich selbst als Ripper, Rächer, Schlitzer und Ähnliches, drohten oder kündigten Taten in der Hoffnung darauf an, den Polizeiapparat in Bewegung zu versetzen, um sich selbst aufzuwerten. Fast schien es, als seien die Witzbolde, dummen Jungs und psychiatrischen Fälle durch Alex’ Präsenz als Polizeipsychologin in Lemfeld regelrecht inspiriert worden. Zunächst war die Polizei noch einigen Schreiben nachgegangen. Einige waren von zwei Sechzehnjährigen verfasst worden, die zusammen mit ihren Eltern vorgeladen und vom Jugendrichter ordentlich zusammengestaucht worden waren. Am Ende hatte man die gelegentliche Post nur noch so ernst genommen wie alberne
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