Totenruhe
dieser Frauen ist so dumm wie ein Fuchs, deshalb hat sie mich ja mitgeschleppt«, entgegnete ich. »Warum weihst du mich nicht ein?«
Mit einer trockenen, dünnen Hand berührte sie meine Wange und sagte: »Ich würde dir alles erzählen, wenn ich könnte. Das, was ich zu Lillian gesagt habe, war mein Ernst - du und Lydia macht mich sehr stolz. Aber ich habe Versprechen gegeben,
Irene, und ich habe vor, sie zu halten, wenigstens für den Moment. Aber bohr du ruhig weiter, und lass dich von dem, was du entdeckst, nicht entmutigen oder verschrecken, dann spielen meine kleinen Versprechen überhaupt keine Rolle mehr.«
»Na gut, mach ich.«
Ich brachte sie zur Tür. »Helen, gerade ist mir noch etwas eingefallen, was ich dich fragen wollte.«
»Ja?«
»1936 hast du doch für eine Weile die Zeitung verlassen?«
In ihre Augen trat ein Blick, den ich schon mehrmals gesehen hatte. Wenn ich im College etwas abgegeben hatte, das ihr besonders gefiel, bekam sie denselben Blick. »Ja. Komm doch auf einen Sprung mit rein. Ich will dich nicht aufhalten, aber hier draußen ist es für so ein Gespräch zu kalt.«
Wir gingen hinein und zogen die Mäntel aus, ehe wir uns gemeinsam auf ihr Sofa setzten.
»Ich habe die Zeitung tatsächlich für etwa ein Jahr verlassen«, sagte sie. »Wie hast du davon erfahren?«
»Es steht in O’Connors Tagebuch. Warum bist du denn gegangen?«
»Aus mehreren Gründen. Ich will dir ein paar davon nennen. Zunächst einmal habe ich nicht das gleiche Gehalt bekommen wie meine männlichen Kollegen, obwohl ich auch davon leben musste.«
»War damals noch Wrigley der Erste am Ruder?«
»Ja. Er war aber schon ein alter Mann. Ich habe ihn um eine Gehaltserhöhung gebeten, und er hat erwidert, dass er mir keine geben könne - ob ich nicht wüsste, dass wir eine Wirtschaftskrise hätten und es auch Männer gäbe, die meinen Job wollten und so weiter. ›Halt’s Maul oder geh‹ war seine Devise.«
»Also bist du gegangen.«
»Ja. Und alle haben gedacht, das sei der Grund dafür gewesen.
Aber ich habe schon zuvor gewusst, wie er reagieren würde, und so hat mir seine Ablehnung nur dazu gedient, meine anderen Gründe zu kaschieren.«
»Und die waren?«
»Vor allem war ich wahnsinnig verliebt in einen Mann, der zwar enorm viel für mich übrig hatte, aber ganz eindeutig noch nicht bereit war, in den Hafen der Ehe einzulaufen.«
»Jack.«
»Jack. Faszinierend bis zum Anschlag und ein richtiger Teufel. Er war jünger als ich und musste sich erst die Hörner abstoßen.« Sie lächelte. »Man kann sie nicht ändern, weißt du. Sie müssen von allein rauswachsen.«
»Das mit Lillian hast du gewusst?«
»Oh ja. Lily war eine ebensolche Schönheit wie er. Sie waren ein umwerfendes Paar. Und natürlich hatte ihr alter Herr einen Haufen Geld, daher hat sie gedacht, dass Jack sich zwangsläufig weiterhin um sie bemühen würde. Doch was ihm an ihr gefallen hat, war ihr Feuer, nicht das Geld ihres Vaters.«
»Bist du wegen Lillian gegangen?«
»Nein, wegen Jacks Frauen eifersüchtig oder wütend zu sein hätte mich überfordert - außerdem wäre es sinnlos gewesen. Er hatte so eine Art, einem - also, damals war ich überzeugt davon, dass es ein Verführertrick von ihm war, aber er hat mir versichert, dass ich etwas Besonderes sei - dass er zwar vielleicht hier und da herumflirtet, aber nur ich ihm wirklich etwas bedeute. Außerdem mochte ich Lillian. Auch ich habe dieses Feuer in ihr bewundert. Sie hatte kaum die Highschool hinter sich, aber sie konnte Frauen bloßstellen, die doppelt so alt waren wie sie. Sie ist ein bisschen verwöhnt, aber intelligent, und wenn man sie dazu bringt, sich für etwas anderes zu interessieren als sich selbst, kann sie einen mit ihrer Großzügigkeit und ihrem Elan verblüffen.«
»Sie war verheiratet, als du die Zeitung verlassen hast, stimmt’s?«
»Ja, aber Harold war nie ein besonders großartiger Ehemann. Sie waren kaum einen Monat verheiratet, da ist er ohne sie nach Europa gezogen und in der Weltgeschichte herumgereist. Er hatte mit dem Verkauf von Nachschub an militärische Organisationen zu tun, Munition eingeschlossen. In den Augen der Regierung ist er mit knapper Not sauber geblieben, aber in dieser Zeit haben viele amerikanische Firmen von Kriegen in anderen Ländern profitiert. Barrett Ducane war einer seiner Geschäftspartner. Ich glaube, er hat sogar mit Mitch Geschäfte gemacht.«
»Und Lillian war schwanger, als Harold nach Europa abgereist
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