Totenruhe
sitzen zu bleiben und sagte: »Ich würde dir ja trockene Kleidung anbieten, aber du bist größer als Harold und sämtliche anderen Männer im Haus.«
»Brobdingnag ist meine Heimat«, erwiderte er und wartete immer noch darauf, dass sie als Erste Platz nahm.
Sie blieb mitten im Raum stehen, lächelte versonnen, ehe sie weiterging und sich in den Ledersessel setzte, der ihm am nächsten stand. »Gullivers Reisen.«
»Ja. Wie geht es dir, Lily?«
»Mehr als alle meine anderen Freunde und Bekannten«, erwiderte
sie, »musst du nachfühlen können, wie es mir geht, Conn.«
»Es ist doch nie bei zwei Menschen gleich, oder? Maureen war meine Schwester. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie es mir gehen würde, wenn ich ein Kind verlöre oder ein Enkelkind.«
»Aber trotzdem hast du deinen eigenen Jungen nie gesehen, stimmt’s?«
»Nicht von Angesicht zu Angesicht, nein. Ich glaube, es würde ihn nur verwirren, wenn in seinem Alter noch ein zweiter ›Daddy‹ auf den Plan träte. Aber ich weiß, dass Kenny geliebt und gut versorgt - um nicht zu sagen verwöhnt - wird.«
O’Connor wusste auch, dass Lillians Einstellung ihm gegenüber sich verändert hatte, als sie von seinem Kind erfuhr. Schon lange hatte sie sich für wohltätige Projekte zugunsten lediger Mütter und deren Kinder eingesetzt. Kurz nachdem Jack ihr von O’Connors »hirnverbrannter Heirat« vorgejammert hatte, hatte sie sich bei O’Connor gemeldet und ihm versichert, dass sie ihm gerne helfen würde, falls er oder Vera jemals ihre Unterstützung brauchen sollte. O’Connor nahm sie nie beim Wort, doch seit damals schien Lillian ihn anders zu betrachten. Helen Swan hatte ihm geraten, Lillian nicht mehr so zu sehen, wie sie als verzogenes neunzehnjähriges Gör gewesen war, da das Leben sie seither ziemlich gebeutelt hatte, und er hatte erkannt, dass das stimmte. Vielleicht hatte Helen ja auch Einfluss auf Lillians Einstellung ihm gegenüber genommen. Im Lauf der letzten sieben Jahre waren O’Connor und Lillian enge Freunde geworden, obwohl sie gleichzeitig immer mehr auf Abstand zu Jack gegangen war.
Doch nun erkundigte sie sich nach Jack, und er wusste, dass er sie nicht länger hinhalten konnte.
»Ist noch zu früh, um irgendwas mit Gewissheit sagen zu können«, erklärte er.
Er wandte sich um, als die Tür zur Bibliothek aufging. Der
Butler kam mit einer Flasche teurem Single-Malt Scotch und zwei Gläsern herein.
»Danke, Hastings«, sagte sie. Der Butler nickte und ging wieder.
»Eigentlich schon längst Bettzeit für Hastings, oder?«, fragte O’Connor.
Sie schenkte den Scotch ein und reichte ihm ein Glas. »Glaubst du ernsthaft, dass er sich zur Nachtruhe begeben würde, selbst wenn ich ihn darum bäte? Solange ich wach bin, ist auch Hastings wach.«
»Ist das ein Segen oder ein Fluch?«
»Eher ein Segen, obwohl ich es in jüngeren Jahren nie so empfunden habe. Aber einen wirklich loyalen Menschen in seinem Leben zu haben ist etwas, das man nicht als selbstverständlich hinnehmen darf, daher weiß ich ihn jetzt mehr zu schätzen.«
»Nur einen?«
»Es gibt auch andere. Falls du dich fragst, ob ich an Jacks Loyalität zweifle, lass es sein.« Sie lachte leise. »Vielleicht nicht treu, aber loyal.«
»Und du ihm gegenüber auch, auf deine Weise.«
»Ja, immer auf meine Weise, nicht wahr? Außer jetzt. Willst du mir nun die Wahrheit darüber sagen, was ihm zugestoßen ist?«
Er trank einen Schluck Scotch und spürte dessen Weichheit auf der Zunge.
»Harold hat nichts dagegen, dass du bis in die Puppen aufbleibst und mit Reportern Scotch trinkst?«
»Angeblich ist Harold heute Nacht in Dallas und schläft sich vor irgendwelchen Besprechungen aus. Er ist am Sonntagmorgen mit seinem Privatflugzeug nach Las Vegas geflogen, um einen ›Geschäftsfreund‹ zu treffen - zumindest hat er mir das erzählt, woran du erkennst, für wie dumm mich Harold hält. Irgendwann kriegt vielleicht jemand raus, in welchem
Bordell in Nevada er steckt, und sagt ihm, dass seine Tochter vermisst wird und sein Enkel entführt worden ist. Es wäre interessant zu sehen, wie lang es dann dauert, bis er nach Hause kommt. Natürlich kommt er nur nach Hause, um den Schein zu wahren. Dadurch wird das alles bloß noch unerträglicher.«
Er sagte nichts. Sie seufzte, ehe sie weitersprach. »Und du hast mir immer noch nicht von Jack berichtet. Die Wahrheit, Conn.«
Mit ihr über Jack zu sprechen war bereits dann eine heikle Angelegenheit, wenn alles in
Weitere Kostenlose Bücher