Totenruhe
dir, ob es dem anderen nun passt oder nicht …‹«
Sie hob den Blick und lächelte. »Wieder eines deiner Zitate? Von wem stammt das?«
»Von James Hilton.«
»Aus Leb wohl, Mister Chips? «
Er schüttelte den Kopf. »Jahr um Jahr.«
»Ah. Das habe ich noch nicht gelesen. Lass mich raten - Jack hat dir empfohlen, Passagen aus Büchern, die dir gefallen, auswendig zu lernen, damit du Zitate für deine Artikel parat hast.«
»Maureen. Und um sie fürs Leben parat zu haben.«
»Maureen. Deine Schwester. Ich wünschte, ich hätte sie gekannt.«
Er sagte nichts. Maureen war mittlerweile seit über zehn Jahren aus seinem Leben verschwunden, und sie fehlte ihm noch immer. Fehlen, sinnierte er, war genau das richtige Wort - sie war weg wie ein Stück von ihm, das man aus ihm herausgeschnitten hatte und das nun fehlte.
»Ich hoffe, sie finden alle beide«, sagte er unvermittelt. »Alle, meine ich, aber um deinetwillen hoffe ich, sie finden Katy und Max.«
»Ich möchte so gern daran glauben, dass sie sie finden …«, stieß sie mit rauer Stimme hervor und verstummte, bis sie sich
wieder in der Gewalt hatte. »Ich möchte es so gerne glauben, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass sie sie nicht finden.«
»Du kennst doch Norton, den Detective, der mit der Entführung betraut ist?«
Sie nickte. Er merkte ihr an, wie sie mit sich rang, wie sie gegen die Tränen ankämpfte.
»Er ist der Beste weit und breit. Vertrau ihm.«
Sie nickte erneut, ehe sie abrupt aufstand und an eines der Fenster trat.
Auch O’Connor erhob sich und sah ihr zu, wie sie die schweren Vorhänge grob beiseite zerrte und den Samtstoff mit einer Hand umklammert hielt.
»Dieser verdammte Regen«, sagte sie.
14
Es war nur noch eine gute Stunde bis Sonnenaufgang, als Lorenzo Albettini, der Kapitän des Fischkutters Nomadic Maiden, seine vierköpfige Besatzung anwies, die Netze einzuholen. Sein jüngerer Bruder Giovanni war einer dieser vier, und Lorenzo musterte ihn stolz. Gio hatte sein Kapitänspatent bereits in der Tasche, und schon bald würden sie ein zweites Boot kaufen und für die wachsende Bevölkerung, die jetzt an dieser Küste wohnte, noch mehr Fisch fangen.
Der Regen hatte in den letzten Stunden nachgelassen und vor etwa einer Stunde dem Nebel Platz gemacht, sodass die Wellen nun nicht einmal mehr annähernd so hoch waren wie zuvor. Lorenzo hatte die Nebelsignale gesetzt, damit andere Schiffe, die eventuell ihren Weg kreuzten, über die Anwesenheit der Maiden Bescheid wussten.
Gio und die anderen hatten soeben den letzten Fang an Bord gehievt, als er das andere Boot aus dem Nebel auftauchen und geradewegs auf den Bug der Maiden zukommen sah. Eine große
Freizeitjacht, die reglos im Wasser lag: keine Lichter, kein Motor, keine Fahrt. Trieb ein bisschen mit der Strömung. Lorenzo fluchte. Bestimmt hatte der Sturm das teure, neue Spielzeug eines Reichen abgetrieben. Er rief Gio zu, er solle die Fender anbringen, und griff nach dem Megafon. Damit rief er zu dem Vergnügungsboot hinüber, das, wie er nun sah, eine echte Schönheit war - Teakdecks und ein schlanker, weißer Rumpf. Eine Chris-Craft, schätzungsweise fünfzehn Meter lang.
Er war nicht ernsthaft verwundert, als er keine Antwort erhielt.
Lorenzo war ein guter Steuermann, und so manövrierte er die Maiden ohne Probleme neben die treibende Jacht. Sea Dreamer hieß sie, wie er jetzt sehen konnte.
Er rief die Küstenwache. Der Funker unterbrach ihn und fragte nach seiner Position. Das war ein bisschen peinlich für ihn. Er konnte zwar die Nomadic Maiden mit Leichtigkeit aus einem Hafen voller Boote steuern, aber er war kein Navigator. Er kannte die Küste, ihre Lichter, Formationen und Gebäude und hielt sich in Sichtweite dieser Merkmale. »Südlich von Catalina Island, nördlich von San Clemente Island.«
»Wir finden Sie. Over«, sagte der Funker. Als Lorenzo den Namen des Boots nannte, das er entdeckt hatte, bemerkte er eine plötzliche Veränderung im Tonfall des Funkers.
»Die Sea Dreamer? Gibt es Überlebende? Over.«
Überlebende? Lorenzo war perplex. Er war überzeugt gewesen, dass er es hier lediglich mit einem von vielen Vergnügungsbooten zu tun hatte, die sich in der vergangenen Nacht von ihrem Ankerplatz losgerissen hatten und nun auf dem Meer trieben - was nach einem Sturm nichts Ungewöhnliches war. »Ich sehe niemanden an Deck oder am Ruder.«
»Nomadic Maiden«, sagte der Funker von der Küstenwache, »die Sea Dreamer hatte vier Erwachsene an
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