Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
rechnete Wallner nach. »Wie lange war die im Dorf?«
»Ich weiß es nimmer. Das ist so lang her. Aber wart amal …« Otto befeuchtete die Gummierung des Zigarettenpapiers mit seiner Zunge. »Bei Kriegsausbruch war die nimmer da. Das weiß ich noch, weil mir Buben sind im ganzen Dorf herumgelaufen und haben jedem erzählt, dass jetzt Krieg ist. Es hat aber jeder schon gewusst. Die anderen haben ja auch a Radio gehabt. Und der alte Haltmayer ist vor seinem Haus auf der Bank gesessen am frühen Morgen und hat ganz bös geschaut und hat uns Buben gesagt: Ihr werdt’s euch noch umschauen. Das ist der Untergang!« Otto betrachtete die frisch gedrehte Zigarette in seiner klobigen Hand. »Und da war die nimmer da.«
»Weiß man denn, wo sie hingegangen ist?«
»Nein. Eines Tages war sie weg. Jemand hat gesagt: Die haben sie abgeholt.«
»Wer ist die ?«
Otto zuckte die Schultern. »Gestapo? Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat’s auch keiner gesehen. Die sind ja meistens nachts gekommen.«
»Das war also Sommer ’39. Kriegsausbruch war am ersten September.«
»Richtig.«
»Ist die Frau noch mal zurückgekommen?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich war bei Kriegsende nicht in Dürnbach. Mich ham s’ noch kurz vor Schluss eingezogen, weil ich schon siebzehn war.«
»Und? War’s schlimm?«
»Mir san irgendwo im Fränkischen gelegen und hätten a Dorf verteidigen sollen. Und wie der Amerikaner gekommen ist und unser Ufz gesagt hat: Jetzt gilt’s! Zeigt’s den Amis, was ein deutscher Soldat ist, da hamma ihm eins über’n Schädel gegeben und die weiße Flagge gehisst. A Viertelstund, und der Krieg war vorbei.«
»Samma jetzt schlauer?«, fragte Kreuthner Wallner.
»Wir wissen, dass sie ursprünglich aus Düsseldorf war.«
24
D urch den Hinweis auf Düsseldorf haben sich uns neue Möglichkeiten eröffnet.« Wallner saß zusammen mit Claudia und Kriminalhauptkommissar Höhn in Lukas’ Büro am Konferenztisch. Lukas, Claudia und Höhn rauchten, was das Zeug hielt, und Wallner fror. Denn das Fenster stand wegen der Rauchentwicklung auf Kippe, und draußen war es winterlich kalt. Wenn Wallner hier mal was zu sagen hätte, würde er andere Seiten aufziehen. Dann könnten sie draußen qualmen, und das Fenster bliebe zu. Er schlug den Kragen seines Jacketts hoch, versuchte, beim Vortrag nicht zu zittern, und starrte in eine Akte mit Schriftstücken und Fotos.
»Wir haben das Medaillon, das die Tote um den Hals trug, allen Juwelieren im Landkreis und einigen alteingesessenen Häusern in München gezeigt. Ohne Ergebnis. Vor drei Tagen haben wir die Kollegen in Düsseldorf gebeten, die ortsansässigen Juweliere, die schon vor dem Krieg tätig waren, zu dem Medaillon zu befragen. Tatsächlich gab es eine Rückmeldung. Die Firma Wilhelm Körner und Söhne hat das Stück mit alten Mustern verglichen. Die haben dort ein sehr gut gepflegtes Archiv, das den Krieg überlebt hat. Dort ist unter anderem festgehalten, welcher Kunde wann welches Schmuckstück bekommen hat. Das diente zum Beispiel als Nachweis bei Reklamationen. Das Medaillon ist kein Einzelstück und war auch nicht übermäßig teuer, aber das Design ist eine Kreation des Hauses Körner. Es wurde vor dem Krieg über fünfzig Mal verkauft. Unter anderem im August 1920 an eine Edith Jonas, möglicherweise die Mutter von Frieda Jonas. Weiter sind wir nicht. Insbesondere ist noch nicht bekannt, wie sie zu Ägidius Haltmayer in Beziehung stand.«
Höhn nahm gemächlich einen Schluck Kaffee aus seinem Bayern-München-Becher. »Wir können die Kollegen in Düsseldorf gern noch a bissl arbeiten lassen. Vielleicht kriegen die ja raus, wie die Zusammenhänge sind. Aber selbst wenn, sind wir Lichtjahre davon entfernt, dass wir den Täter finden. Also meine Ansicht is: Entweder wir geben jetzt amal Gas und gehen richtig rein in die G’schicht, oder wir lassen’s ganz bleiben, weil wahrscheinlich eh nichts rauskommt. Ich selber bin für Variante zwei.«
»So schnell will ich die Flinte nicht ins Korn werfen. Einiges haben wir ja schon rausgefunden«, sagte Claudia.
»Das ist natürlich Ihre Entscheidung, Frau Staatsanwältin«, sagte Höhn.
Im Grunde war ihm egal, was sie ihm in seinen letzten Monaten hier zu tun gaben.
»Sag mal: Frierst du?« Claudia sah Wallner besorgt an. Der hatte mittlerweile sein Jackett zugeknöpft und bemühte sich, das Zittern zu unterdrücken.
»Kein Problem. Geht schon.« Wallner versuchte zu lächeln.
»Wir können das Fenster
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