Totenstadt
einen Augenblick später sagte der tote Mann auch nichts mehr.
Aus Neugier hatte er in dem Chaos aus leeren Flaschen, überfüllten Mülleimern und halb gegessenen Mahlzeiten, die verschimmelten, herumgestochert. Fernsehzeitungen waren sorgsam in acht Jahrgängen geordnet, und er fand einige militärische Medaillen, die in einem Schaukasten aufbewahrt wurden, der völlig verstaubt in einem Schrank lag. In einem weiteren befand sich ein Ordner mit unvollständigen Seiten, die über die Anwesenheit dieses Mannes am 4. April 1968 in Memphis Auskunft gaben. Dem Tag, an dem Martin Luther King gestorben war.
Auf den Tasten der Schreibmaschine, die oben auf dem Schreibtisch stand, lag nicht ein Staubkörnchen.
Aal zündete das Haus an, wie man es ihm aufgetragen hatte, und es brannte wie Zunder. Den Ordner behielt er, er las ihn aus Zeitvertreib auf dem Heimweg und zu Hause. Es war wahrscheinlich alles irres Gerede oder der Versuch eines Almosenempfängers, die Gerüchteküche anzuheizen und den Streit auszuschlachten. Oder es war die Wahrheit.
Er hatte schon seltsamere Dinge gesehen.
Aber diese Episode hatte ihn wach gerüttelt, und in den darauf folgenden Nächten starrte er an die Wände und aus den Fenstern und fragte sich, ob und wann der Tag kommen mochte, an dem seine ewige Schweigsamkeit weitaus wertvoller sein würde als seine Talente. Er wusste nun, dass seine Tage in D.C. gezählt sein würden.
Dann, im November, fünf Monate später: der erste Hauch einer echten Alternative. Ein unregelmäßiger, aber verlässlicher Partner, ein Lakai des G. Gordon Liddy- Flügels, kontaktierte Aal, weil jemand einen Job in der Stadt erledigt haben wollte. Es war der Boss einer verbrecherischen Organisation in New Orleans, der im Auftrag einer ungenannten dritten Partei aus dem Ausland handelte. Das Ziel war die Kolumnistin Cass Petersson von der Washington Post, die Aal jeden Tag von vorne bis hinten las, und er wusste sofort, dass sie in letzter Zeit vernichtend – und wiederholt – Kritik an der neuen republikanischen Verwaltung geübt hatte, die der haitianischen Regierung eine größere Unterstützung zugesichert hatte. Die Gräueltaten, die an der haitianischen Bevölkerung und an Rivalen ihres dynastischen Regimes verübt wurden, waren eine dunkle Legende, die Petersson immer wieder unablässig anprangerte. Zuerst unter Dr. François Duvalier, dessen Tonton Macoute seine Terrorherrschaft ausübte, danach unter seinem Sohn Jean-Claude, der 1971 nach dem Tod von Papa Doc die Präsidentschaft auf Lebenszeit ausgerufen hatte.
Aal konnte verstehen, dass Cass Petersson den falschen Leuten ein Dorn im Auge war, da sie diese Dinge ins Bewusstsein der Leute rückte und diese gegen die haitianische Regierung aufbrachte. Der Großteil der amerikanischen Bevölkerung wusste nicht viel über Haiti, und ihre Geschichten über Leichen, die regelmäßig an der Straße zum Flughafen abgelegt wurden, sorgten für einigen Aufruhr. Todesschwadronen in Mittel- und Südamerika waren eine Sache, das war alles sehr weit weg. Aber Haiti? Das war die Karibik. Jamaika. Die Bahamas. Zu nahe der Heimat …
Und außerordentlich interessant. Aal hatte die Machtkonsolidierung des älteren Duvaliers nach seiner Amtseinführung im Jahre 1957 schon lange bewundert. Der Mann war ein Genie. In einem Land, in dem ein launenhaftes Militär jederzeit revoltieren konnte, hatte Papa Doc sein eigenes Gegengewicht geschaffen und eine Geheimpolizei ins Leben gerufen, die absolut treu hinter ihm stand. Aber es reichte nicht, nur in Port-au-Prince das Sagen zu haben, und so hatte sich Duvalier Anhänger im ganzen Land gesucht, so genannte Bokors … Die Zauberer der Vodoun-Religion, die ihre dunklen Elemente beherrschten: die schwarze Magie. Nachdem er sie davon überzeugt hatte, dass er ein außerordentlich wichtiger Hexenmeister war, warb Duvalier sie als Furcht einflößende Anhänger und Vollstrecker seines Willens an. Als Lohn für ihre Treue wurde er zum erklärten Feind der katholischen Kirche und schützte die Vodoun- Priester und -Priesterinnen vor dem Einfluss der Missionare, indem er ihre Verfolgung verbot.
Ein Tonton Macoute – was frei übersetzt »Onkel Schwarzer Mann« heißt, ein Macoute war die Tasche eines Bauern, in der eine schreckliche Nachtgestalt ein Kind stahl und forttrug – war in seiner blauen Uniform leicht zu erkennen, und er war mit einer Machete und einer Pistole, später auch mit einer Uzi bewaffnet. Sie trugen dunkle
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