Totentanz im Monsterland
nicht die rigiden Regeln der drachischen Gesellschafts- und Familienordnung kennt – wie kann ich es euch verständlich machen?«
»In der Tat«, bemerkte ich zartfühlend. »Ich glaube, wir sind schon länger zusammen und kennen uns besser, als je ein Mensch, ein Drache und ein Dämon zuvor. Warum schilderst du uns nicht einfach dein Problem, und wir versuchen, dich zu verstehen?«
»Ja, warum eigentlich nicht?« stimmte der Drache mir zu, doch ohne die rechte Begeisterung. »Es wird mir zumindest die Zeit verkürzen, bis wir…«, ein Schauder durchfuhr seinen schuppigen Körper – »dort sind.«
Hubert hielt inne, und Rauchschwaden stiegen von seinen Nüstern auf. Ich hielt den Atem an, wenn der Drachenodem an mir vorbeizog, da ich fürchtete, durch Husten Huberts Konzentration zu stören.
»Wo soll ich nur beginnen?« fragte Hubert hilflos.
»Das wird eine längere Geschichte, nicht wahr?« fragte Snarks fatalistisch.
»Ich glaube, ich beginne damit, daß ich schon immer anders war«, fuhr Hubert fort, und sein Bühnenblut hatte ihn bereits vollständig in diese neue Rolle versetzt. »Nicht, daß man mir keine Chancen gegeben hätte, mich einzufügen. Die traditionellen drachischen Berufszweige wie Welteroberung, Goldhorts anlegen und hüten, Jungfrauen entführen, Fern- und Ätherreisen standen mir offen. Aber nein, ich mußte ja ›mein eigenes Leben leben‹. Das Gift Theater hatte bereits seinen Weg in meine reptilischen Blutbahnen gefunden!
Alles begann in meiner Lehrlingszeit. Einer der älteren Drachen – um genauer zu sein, mein Onkel Zacke – hatte mich nach unten in die Menschenwelt mitgenommen, um mir einige fundamentale Lektionen beizubringen – ähm, ich glaube, es waren ›Panik‹ und ›Chaos 101‹. Also da war ich dann, und man erwartete von mir, daß ich alles niedertrampelte und Feuer spuckte und die Bevölkerung zu Tode erschreckte, damit sie kopflos die Flucht ergriff – na ja, das war eben der pädagogische Zweck der Übung, das Lernziel sozusagen. Aber mein Onkel hatte den Fehler begangen, uns am Markttag mitten in dieser großen Ansiedlung abzusetzen.
Onkel Zacke düste also ab, um ein paar Menschlein so zu erschrecken, daß sie vor meine Nase flohen – um die Chose in Gang zu setzen, wißt ihr. Doch unwissentlich und fahrlässig hatte er mich an einem Ort abgesetzt, der mein weiteres Leben bestimmen sollte!« Der Drache stieß einen langen, nostalgischen Rauchseufzer aus. »Denn hört, nur fünfzig Fuß entfernt hatte ein Kasperltheater seine kleine Bühne aufgebaut!«
»Ein Kasperltheater?« unterbrach ihn Snarks. »Das klingt ja ungemein beeindruckend.«
»Ja«, erklärte Hubert glücklich, zu sehr in seinen Erinnerungen versunken, um den Sarkasmus unseres dämonischen Freundes zu bemerken. »Kasperl und alle seine kleinen Freunde. Oh, wie ich diese Püppchen liebe!«
»Das wird nicht nur langatmig«, ätzte Snarks. »Das wird vor allem rührselig.«
Hubert lachte traurig. »Ich war verloren, bevor ich auch nur eine Minute auf die Bühne gestarrt hatte. Denn seht ihr, es gab nicht nur eine Kasperle- und eine Gretchen- und eine Polizistenpuppe, nein – es gab auch einen kleinen Drachen!«
»Das erklärt vieles!« seufzte Snarks.
Ich dachte daran, den Dämonen zum Schweigen anzuhalten, doch Hubert war so in die bühnenreife Darbietung seiner Lebensgeschichte versunken, daß er ohnehin nichts mehr registrierte.
»Ja, so war es«, fuhr der Drache fort. »Das ganze Leben auf dieser winzigen Bühne. Kasperle gab Gretchen eins auf den Kopf, Gretchen gab Kasperle eins auf den Kopf, der Polizist gab Kasperle und Gretchen eins auf den Kopf, und die beiden hauten natürlich den Polizisten zurück – ein Panoptikum des alltäglichen Lebens in all seinen Niederungen und seiner Langeweile. Und dann hatte der Drache seinen Auftritt, und es wurde wirklich interessant.«
Hubert hielt plötzlich inne. Ich beugte mich vor und sah an seinem Kopf vorbei auf einen zweiten Berg, dem wir uns rapide näherten.
»O Gott«, stöhnte der Drache.
Dort vor uns, so folgerte ich messerscharf, lag Huberts Stamm- und Familiensitz.
Wir flogen durch die Wolken voran, und ich erhaschte einen besseren Blick auf unseren Bestimmungsort. Es war nicht das, was man einen typischen Berg nennen würde. Oh, er hatte schon die entsprechende Größe, und auch Steilhänge und zackige Profile fehlten nicht. Doch er besaß keinen Gipfel. Was eigentlich das obere Viertel eines Berges sein sollte, fehlte
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