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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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sie und Osama umfasste –, jedenfalls kostete es ihn einige Anstrengung, ruhig zu antworten. »Natürlich«, sagte er. »Und ich finde, sie sollte mit dir reden.«
    »Sie war den ganzen Tag nicht zu Hause«, sagte Katya in einem bedrohlich monotonen Tonfall. »Weißt du, wo sie im Augenblick sein könnte?«
    Er zögerte viel zu lange, aber es kam für ihn nicht infrage, sie anzulügen. »Ja.«
    »Also könntest du sie morgen aufs Präsidium bringen?«
    »Ja.« War der Ausdruck in ihrem Gesicht wütend oder enttäuscht?
    »Gut.« Sie angelte ihr Handy aus der Tasche. »Entschuldige, dauert nicht lange.« Sie rief ihren Cousin an, wie er dem Gespräch entnahm. Mittendrin sagte er: »Ich kann dich nach Hause fahren«, aber sie schüttelte den Kopf.
    »Ayman ist sowieso auf dem Heimweg«, erklärte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. »Da kommt er direkt hier vorbei. Ist einfach bequemer so.«
    Ich dachte, er hat einen schlechten Orientierungssinn , lag Nayir auf der Zunge, doch stattdessen stand er auf und Katya ebenfalls. Ihren Kaffee ließ sie unangetastet stehen. Als sie zur Tür gingen, tat sich zwischen ihnen eine bodenlose Kluft auf. Nayir erkannte mit einem niederschmetternden Gefühl, dass er sie nicht verlieren wollte, doch sie entzog sich ihm spürbar, und er konnte nichts dagegen tun.
    Immer wenn er Katya sah – und daran konnte er nicht einfach Starbucks die Schuld geben –, wurde er hinterher von Unschlüssigkeit geplagt. Sollte er in die Moschee gehen oder zu Hause beten? War es in Ordnung, eine Stunde lang Satellitenfernsehen zu gucken? Er konnte nicht mal mehr entscheiden, was er zum Abendessen wollte. Bei Katya sah er sich stets einem offensichtlichen, nagenden Widerspruch ausgesetzt: Es war unschicklich und falsch, mit einer unverheirateten Frau Umgang zu haben. Aber falls es für sie beide der Weg zu einer rechtmäßigen Verbindung wäre, war es dann wirklich falsch?
    Wie hatte seine Entschlossenheit nur in eine derartige Verwirrung übergehen können? Nicht mehr bloß, was Katya betraf. Das Mittagessen mit Miriam, sogar seine Einwilligung, sie zu Hause abzuholen – war das richtig gewesen? Imam Hadi hätte ihm geraten, Miriam umgehend in ein Frauenhaus zu bringen, anstatt sie der Khulwa auszusetzen, dem sündigen Zustand des Alleinseins mit einem nicht verwandten Mann. Doch stattdessen hatte er sie zu Samir gebracht – doppelte Khulwa . Warum hatte er das getan? Weil er meinte, keine andere Wahl zu haben. Anscheinend hatte ihn seine Offenheit im Umgang mit Katya für diese Zweifel prädestiniert. Wenn er die Regeln brechen musste, um irgendwann heiraten zu können, wieso konnte er die Regeln dann nicht auch wegen weniger wichtiger Dinge brechen? Und wie wichtig waren seine kleinen Entscheidungen überhaupt?
    Bis heute war ihm nie klar gewesen, wie sehr sein Glaube ihm Stabilität im Leben gegeben hatte, ähnlich der Heiligen Ka’aba, die Allah für Adam und Eva als Heimstatt erbaut hatte, als sie das Paradies verließen, und die durch alle Zeiten am selben Ort verblieben war. Die Ka’aba, das unbewegliche Zentrum des irdischen Universums, in deren Richtung sich alle Muslime fünfmal am Tag beim Gebet wandten, symbolisierte die unerschütterliche Stärke und Beständigkeit Allahs. Sie würde selbst nach dem Ende aller Zeiten auf Erden bleiben.
     
    Und ebenso lange würde Nayir wahrscheinlich darüber nachdenken, was er zu Abend essen wollte.
    Er kehrte zu Samirs Haus zurück, aber Miriam schlief schon, und Samir plauderte munter am Telefon mit einem Freund. Nayir wusste nicht, ob er die Nacht auf seinem Boot oder bei Samir auf dem Sofa verbringen sollte. (Boot oder Sofa? Boot oder …?) Er wollte Miriam früh am nächsten Morgen sehen, ehe sie vielleicht auf die Idee kam, wieder auf und davon zu müssen. Und Samir würde sich wahrscheinlich über die Gesellschaft freuen. Aber eigentlich wollte Nayir im Augenblick nur eines, nämlich allein sein.
    Er ging in Samirs Arbeitszimmer und setzte sich an den Computer. Das kam nicht oft vor. Das Internet war überwältigend – Kauf dies! Lies das! –, aber er brauchte dringend eine Ablenkung, und so ging er auf fatwa-online.com. Dort waren die jüngsten Erklärungen von Scheichs zu finden, und es gab Diskussionsforen über bestehende Fatwas. Anscheinend hatte die saudische Regierung diese Webseite ins Leben gerufen, um mancherlei religiöse Rechtssprüche zu legitimieren, von denen Woche für Woche Hunderte erfolgten. Aber falls die

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