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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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Regierung gehofft hatte, die Kakofonie der Geistlichen auf diese Art einzudämmen, so hatte sie sich gewaltig getäuscht.
    Es war eine herrliche Abwechslung. Eine Stunde lang verlor er sich in den komplizierten Detailfragen des Islam – war Viagra halal ? Sollte ein Mann die al-anfuqah auszupfen, die Haare, die direkt unter der Unterlippe wachsen, aber offiziell nicht als Barthaare gelten? In welchen Fällen ist es einem Mann erlaubt, im Stehen zu urinieren? Die meisten Antworten beruhten schlicht auf gesundem Menschenverstand, und einige wenige weckten in ihm ein gewisses Mitleid für den armen Fragesteller: War eine Geschlechtsumwandlung erlaubt? (Nein.) Wie sollte eine Mutter mit ihrem hermaphroditischen Kind verfahren? (Sich für ein Geschlecht entscheiden und alles, was zum anderen Geschlecht gehört, chirurgisch entfernen lassen.) Und ein paar Fragen brachten ihn ins Grübeln: War es zulässig, Romane zu lesen? (Nein, weil Romane, da sie voller Lügen steckten, für Verfasser und Leser eine nutzlose Beschäftigung darstellten und gute Muslime ihre Zeit klug nutzen sollten.) Er konnte sich die spitzen Bemerkungen vorstellen, mit denen Onkel Samir diese Antwort quittieren würde. Immerhin räumte der Fatwa-Schreiber ein, dass man sich mitunter doch der Lektüre von Romanen hingeben durfte, vorausgesetzt, es gab einen höheren Grund dafür.
    Er fragte sich gerade, was das für ein höherer Grund sein könnte, als die Tür aufging und Miriam hereinschaute.
    »Hi«, flüsterte sie. Sie sah aus, als wäre sie gerade aufgewacht. Sie trug kein Kopftuch, und ihr Haar war offen und zerzaust. Er senkte den Blick zu Boden.
    »Ich möchte nicht stören«, sagte sie benommen, kam aber trotzdem ins Zimmer und schloss die Tür.
    Sein erster Gedanke war, dass sie offenbar vergessen hatte, wo sie war. Nämlich nicht in Amerika, wo eine Frau kopftuchlos und mit unverhülltem Gesicht in ein Zimmer spazieren konnte, um sich in aller Ruhe mit einem Mann zu unterhalten, der nicht mit ihr verwandt war. Aber er brachte es einfach nicht über sich, sie darauf hinzuweisen. Schon den ganzen Tag über hatte sie diese Wirkung auf ihn gehabt. Er wusste, was ein Scheich ihm sagen würde, wenn er sich umdrehen und fatwa-online konsultieren würde: dass es seine Pflicht war, angesichts einer unwissenden Ungläubigen weiter rechtschaffen zu bleiben. Es war seine Aufgabe, sittsam zu bleiben, und falls die Sittsamkeit verletzt wurde, dann war das auch seine Schuld.
    Doch in diesem Fall konnte er das Gebot der Trennung von Ungläubigen nicht befolgen, weil ein versteckter Teil von ihm noch nie viel davon gehalten hatte und weil Miriam ihn brauchte. Sie war hilfloser, als eine Frau seiner Meinung nach sein sollte. Muslimische Frauen hatten wenigstens ihre Familien, ihre Freundinnen, ein ganzes Netzwerk von Menschen. Aber wen hatte Miriam? Es war seltsam, dass sie ihm so verletzlich vorkam; er hatte sich amerikanische Frauen immer fast wie Männer vorgestellt, tüchtig und stark mit ihrem kurzen Haar, der maskulinen Kleidung und dem wenigen Schmuck. Aber hier war eine leibhaftige Amerikanerin, und sie brauchte seine Hilfe, gerade weil sie eine Ungläubige war und niemanden sonst hatte, an den sie sich wenden konnte. Ihm klangen weniger die Worte der Scheichs in den Ohren als vielmehr deren vernünftiger Tonfall, und zugleich kam ihm der Gedanke, dass man manchmal Dinge tun musste, die den Geboten widersprachen, weil es einen höheren Grund gab. Und sollte Mitgefühl nicht auch einer sein?
    »Schauen Sie mich nicht so an«, sagte sie.
    »Aber wie –?« Er wurde rot. Er hatte sie gar nicht angeschaut.
    »Als wäre ich das bedauernswerteste Geschöpf auf der Welt.«
    »Sie sollten Ihr Haar bedecken«, sagte er und deutete auf ihren Kopf, ohne den Blick vom Boden zu heben.
    Miriam sah sich suchend um und erspähte auf einem alten Teeservice, das auf dem Schreibtisch stand, eine Serviette. Sie faltete sie auseinander und legte sie sich über den Kopf. Der Stoff reichte kaum bis zu den Ohren.
    Nayir hob eine Hand an den Mund, um das nervöse Lachen zu unterdrücken, das in ihm aufstieg. »Was ist denn das?«, fragte er betont barsch, damit die Hand vor dem Mund wie eine Geste der Missbilligung wirkte.
    »Eine Serviette«, fauchte sie. Sie sah, wie sie jetzt so vor ihm stand, zerbrechlich und klein aus in ihrer zerknitterten Kittelbluse mit Hose. Ihr Gesicht war vom Schlaf verquollen, und unter einem Auge war das Make-up verschmiert. »Reicht eine

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