Totenverse (German Edition)
unerbittliche Wind oben an den Dünen den Staub wie Gischt auf. Nayir parkte vor dem Haus und wartete ein paar Minuten ab, aber es kam niemand heraus.
Er hängte sich das Fernglas um den Hals und ging zur Haustür. Der Klang seiner Schritte auf dem Schotter vor dem Haus war eigentlich schon laut genug. Er klopfte trotzdem. Keine Reaktion.
Die Haustür war unverschlossen. Das Innere bestand aus einem kleinen Raum, einem noch kleineren Schlafzimmer und einer Küche. Es wirkte irgendwie klaustrophobisch nach dem weiten Ausblick gleich vor der Tür, aber es war eine Wüstenbehausung, in der kleine Räume und dicke Lehmwände bei Tag die Hitze und bei Nacht die Kälte abhalten sollten. Er schlenderte durch das Haus. Die Schränke waren mit getrockneten Lebensmitteln und Dosenproviant gefüllt. Der Kühlschrank war leer. Ein 5-Gallonen-Kanister Wasser stand offen auf der Arbeitsplatte, sodass das Wasser darin zu verdunsten drohte. Nayir verschloss ihn fest. Er bemerkte ein Glas daneben auf der Theke. Es war trocken, aber am Rand waren undeutliche Lippenabdrücke zu erkennen.
Plötzlich sah er im Geist Miriam vor sich, als hätte sie ihm jemand geschickt. Und zugleich erfasste ihn erste Unruhe. Wer auch immer hier lebte – und das war vermutlich Mabus –, er wäre so vernünftig gewesen, den Wasserkanister zu verschließen. Aber jemand, der es eilig hatte, konnte das vergessen haben.
Er ging wieder nach draußen und suchte die Piste mit dem Fernglas ab, doch eine aufsteigende Sandwolke verdeckte die Sicht. Der Wind wurde immer stärker, und im Osten war der Himmel sonderbar rötlich gefärbt. Falls jemand kam, würde Nayir ihn nicht sehen und wegen des Windes schon gar nicht hören können.
Er ging wieder hinein, jetzt ernstlich besorgt. Der Holzboden knarrte laut unter seinem Gewicht, und er vermutete einen Hohlraum darunter. Er bewegte sich langsam am Rand entlang und entdeckte eine in die Dielenbretter geschnittene Falltür, die er mit seinem Taschenmesser aufhebeln konnte. Darunter führte eine kleine Metallleiter in einen Keller.
Er kletterte hinunter in eine angenehme, wenn auch modrige Kühle und gelangte in einen winzigen Raum, etwa halb so groß wie das ohnehin schon kleine Zimmer darüber. Ein Schreibtisch stand hier, zwei Aktenschränke und ein niedriges Bücherregal. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Gedrucktes. Nayir sah ihn durch und stellte fest, dass es sich um wissenschaftliche Aufsätze handelte. Schon beim zweiten stockte er.
Obenauf verkündete ein professionell aussehender Schriftzug: Journal der Kritik . Es kam ihm lächerlich vor, dass eine Zeitschrift ausschließlich der Kritik von irgendwas vorbehalten sein sollte. Doch der Titel des Artikels irritierte ihn mehr: Der entschleierte Koran: Wie das einflussreichste Buch der Welt auf einer Lüge errichtet wurde . Er überflog den Aufsatz, stolperte manchmal über komplizierte, unbekannte Worte, blieb aber immer wieder an Satzfragmenten hängen: … die Konvention aufgeben … der Islam ursprünglich eine soziale Bewegung ohne einen echten religiösen Kern … der Koran unserer Zeit entspricht nicht dem, der dem Propheten Mohammed offenbart wurde … ein Fünftel des Korans ist völlig unverständlich …
Autor des Artikels war Wahhab Nabih.
Die übrigen Aufsätze waren ähnlich und ebenfalls von Wahhab Nabih verfasst. Der Koran und die abwegige Vorstellung einer »Heilsgeschichte« und Neudeutung des Korans: Wie Mohammed von seinen Herausgebern verfälscht wurde .
Das war also Mabus’ geheimes Arbeitszimmer oder vielleicht bloß ein Lagerraum für seine blasphemischen Ideen und die seines Gönners, obgleich es immer wahrscheinlicher schien, dass Nabih ein Deckname war. Es war eine gute Idee, diese Arbeiten draußen in der Wüste zu verstecken, wo niemand sie finden würde, aber allem Anschein nach waren die Aufsätze nicht in der Wüste verblieben. Sie waren in Fachzeitschriften veröffentlicht worden. Sie wurden von der Welt gelesen.
Angewidert nahm Nayir den gesamten Stapel und stieg wieder die Leiter hinauf. Doch auf halber Höhe fiel sein Blick auf etwas Glänzendes unterhalb der Treppe. Er kehrte um und legte die Aufsätze auf den Schreibtisch. Unter der Treppe fand er einen Glaskasten, ähnlich einer Ausstellungsvitrine für ein Buch. Darin befanden sich alte Dokumente. Er meinte, die Schriften aus Majdis Labor wiederzuerkennen, aber er hatte nicht die Zeit, sie herauszunehmen und genauer zu untersuchen. Außerdem
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