Totenverse (German Edition)
war der Kasten rundum mit Klebeband versiegelt, und er wollte nicht das Risiko eingehen, die Dokumente zu beschädigen.
Er legte die gesammelten Aufsätze oben auf den Kasten und trug alles zusammen die Treppe hinauf. Eine leise Stimme in ihm sagte, dass jeder Mensch das Recht hatte, Blasphemien zu begehen; der Preis dafür werde im Jenseits bezahlt, und es sei nicht seine Aufgabe, die Strafe dafür zu bemessen. Trotzdem erbitterte es ihn, dass Mabus, ein Westler, hierhergekommen war, um das Land zu studieren, seine Sprache und Schrift, seine Geschichte und Religion, und das nur mit dem einen fanatischen Ziel, das alles zu verunglimpfen oder es zumindest in den Augen von Nicht-Muslimen der Lächerlichkeit preiszugeben. Nayir interessierte sich nicht die Bohne für den akademischen Unsinn, mit dem sein Onkel sich dauernd beschäftigte, aber er kannte sich gut genug damit aus, um die Angriffswaffen zu erkennen, die kalte berechnende Methode, mit der Ideen durch die rationale Sprache der »Wissenschaft« demontiert wurden. Das hier jedoch war keine Wissenschaft, nicht wie Allah sie geschaffen hatte, nichts Natürliches, sondern sorgsam ersonnene Grausamkeit.
Er ging zurück zum Wagen und stellte seine Fracht auf den Rücksitz. Schweiß rann ihm über den Rücken. Er nahm eine Wasserflasche aus dem Kofferraum und leerte sie in einem Zug. Dann ging er wieder ins Haus, wo er die Falltür schloss und in die Küche zurückkehrte. Er brachte es nicht über sich, den Wasserkanister erneut zu öffnen und Mabus seine möglicherweise einzige Chance zu nehmen, hier zu überleben, aber die Versuchung war groß. Stattdessen ging er zur Hintertür hinaus.
Und blieb abrupt stehen. Vor einem Werkzeugschuppen waren auf der Erde offensichtliche Kampfspuren zu sehen. Verwischte Fußabdrücke und kleine braune Schmutzklümpchen, die stark nach Blutspritzern aussahen. Er ging in die Hocke und berührte vorsichtig eines der Klümpchen. Die Feuchtigkeit war noch nicht ganz ausgetrocknet, und an seiner Fingerspitze blieb ein rötlicher Film zurück. Blut. Er stand auf und überlegte, was sich hier abgespielt haben könnte. Er sah eine Schleifspur, die sich bis zur Hintertür erstreckte. Eine andere verlief um das Haus herum, und er folgte ihr.
Sie führte ihn an dem Schlafzimmerfenster vorbei bis vor das Haus. Hier waren noch mehr Spuren auf der Erde. Jemand war aus der Haustür gekommen und einen kleinen Abhang hinuntergelaufen. Dort unten stand ein kleines Gebäude, und als er es erreichte, entpuppte es sich als Stall. An der Tür hing ein Klemmbrett mit einer Nachricht für Mabus. War heute Nachmittag hier. Ihrer Schönen geht’s gut, aber sie braucht frische Salbe für die Wunde an der Schulter . Die Unterschrift war so hingekritzelt, dass er sie nicht entziffern konnte. Ein Kamelhüter, keine Frage, wahrscheinlich ein Einheimischer aus dem nächstgelegenen Ort.
Er ging wieder hinaus und studierte den Boden. Kamelspuren führten vom Stall weg. Er wünschte, er wäre ein Murrah; die Männer dieses Stammes hätten ihm sagen können, ob das Kamel eine Last trug oder nicht. Er beugte sich über die Fußabdrücke und drückte seine offene Hand in den Sand, wie er das bei Murrah-Männern gesehen hatte. Der Sand war fest und ließ sich nicht leicht eindrücken. Er wusste nicht, wie viel Gewicht erforderlich war, um diesen Abdruck zu hinterlassen, aber er fand ihn ziemlich tief. Und er konnte noch nicht sehr alt sein, weil der Wind eben erst die oberste Sandschicht verwehte.
Er ging zurück zu seinem Auto und untersuchte den Boden drum herum. Unglücklicherweise war der Rover über die anderen Spuren gerollt, und da der Wind den losen Sand davongetragen hatte, konnte er unmöglich abschätzen, wann hier zuletzt ein Wagen abgefahren war. Wichtiger war jedoch das Fehlen von Spuren: Niemand war in die Wüste hineingefahren. Wer auch immer hier gewesen war, er hatte die Piste benutzt, auf der auch Nayir gekommen war, und er musste auf demselben Weg davongefahren sein. Nayir blickte zu dem Stall hinunter. Aber wer hatte dann das Kamel genommen?
Es war an sich nicht auszuschließen, dass es allein weggelaufen oder von seinem Besitzer laufen gelassen worden war. Aber die Fußspuren verrieten eindeutig, dass jemand aus dem Haus gekommen und zu dem Kamel gegangen war. Diese Person hatte das Kamel nicht losgebunden, um dann wieder zum Haus zurückzukehren. Wahrscheinlich war sie auf das Kamel gestiegen und davongeritten.
Er musste sich beeilen, ehe
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