Totenverse (German Edition)
schloss die Augen und presste die Finger an die Schläfen. Wieder sah es so aus, als ob er betete, aber Osama konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass der Mann an irgendwas glaubte. Nayir hatte einen Großteil von Mabus’ wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus dem Haus in der Wüste geholt. Ein Londoner Kollege von Mabus hatte Osama erklärt, dass Mabus’ Arbeiten in akademischen Kreisen keinen großen Anklang fanden und dass sich die meisten kritischen Forscher mittlerweile scheuten, seine Artikel zu veröffentlichen, weil sie Reaktionen seitens der Islamisten fürchteten. Der Kollege hatte außerdem gesagt, dass Mabus kein religiöser Mensch sei. Er beschrieb ihn als intellektuellen »Kreuzritter«, der sich mit seiner Forschung an den Rand der akademischen Welt manövriert hatte. Im Jahr zuvor hatte er seine Dozentenstelle an einem College in Großbritannien verloren, und sein beruflicher Ehrgeiz hatte eindeutig fanatische Züge. Seit vielen Jahren gab es für ihn im Grunde nur ein Ziel, nämlich den Beweis dafür anzutreten, dass die heiligen Texte des Islam nicht so unverfälscht waren, wie die Menschen glaubten.
»Sprechen wir über Leila«, sagte Osama.
Zum ersten Mal sah Mabus ihm in die Augen. »Damit hatte ich nichts zu tun. Das geht auf das Konto Ihrer Landsleute. Verdammt, genau deshalb hab ich mich ja mit Eric geprügelt.«
Osama verengte die Augen und wartete.
»Wissen Sie denn immer noch nicht, warum sie es auf Leila abgesehen hatten?«
»Erzählen Sie’s mir.«
»Weil sie mit mir zusammengearbeitet hat. Weil eine muslimische Frau so was nicht mal anrühren darf. Deshalb ist Leila ermordet worden. Sie haben sie erwischt.« Seine Augen blickten jetzt irre.
»Wer hat sie erwischt?«
»Was glauben Sie denn wohl? Die frommen Fanatiker, die dieses Land beherrschen.«
»Meinen Sie jemand Bestimmtes, Herr Mabus?«
Mabus sah ihn an, als wäre er ein ausgemachter Schwachkopf. »Erzählen Sie mir nicht, Sie haben keine Ahnung, wie diese Männer ticken. Wenn einer ausbricht, ihre kleinlichen Vorschriften missachtet, gehen sie ihm direkt an die Kehle. Schluss, aus. Das ist ihre Antwort.«
»Sind Sie schon mal wegen Ihrer Arbeit bedroht worden?«, warf Osama ein.
»Das war gar nicht notwendig –«
»Ist Leila je bedroht worden?«
»Ich weiß nicht. Oder doch, klar, sie wurde andauernd bedroht!«
»Wegen ihrer Arbeit?«
»Wahrscheinlich.«
»Haben Sie Beweise dafür – irgendwas –, dass jemand anderes wusste, was Sie machten?«
»Dafür brauche ich keine Beweise!« Mabus verlor die Beherrschung. »Leilas Tod ist Beweis genug!«
Osama hatte Mitleid mit dem Mann. Er war vollkommen paranoid. Zugegeben, seine Arbeit war zutiefst blasphemisch, und wenn irgendein hitziger Geistlicher davon erfahren hätte, wäre er vielleicht der Ansicht gewesen, Mabus zum Schweigen bringen zu müssen. Aber wieso hätte jemand Leila ins Visier nehmen sollen? Nur weil sie Muslimin war?
Er konnte das einfach nicht glauben. Das Ganze kam ihm absurd vor. Ja, es gab Gewalttätigkeiten im Namen des Glaubens, aber seiner Erfahrung nach hatten Gewalttätigkeiten doch meist andere Auslöser: ein gebrochenes Ehegelübde, einen stillen Verrat. Was hatten diese Ausländer bloß? Sie konnten jahrelang hier leben und sahen doch immer nur das Schlimmste in diesem Land.
»Ich habe Eric und Jacob gewarnt«, sagte Mabus. »Ich habe sie beide gewarnt, dass es gefährlich wäre, irgendwem von meiner Arbeit zu erzählen. Ich schätze, ich habe die Falschen gewarnt, weil stattdessen Leila mit dem Leben bezahlt hat.«
»Wie hat das alles angefangen?«, fragte Osama. »Wie haben Sie Leila kennengelernt?«
»Durch Eric.« Der jähe Übergang zu praktischen Fragen verwirrte Mabus. Er versuchte eine lässige Handbewegung zu machen, doch seine Finger zitterten.
»Und wie haben Sie Eric kennengelernt?«
»Jacob hat uns miteinander bekannt gemacht. Ich kannte Jacob seit Jahren. Eric habe ich kennengelernt, als er neu hierherkam. Er suchte eine Wohnung, und ich habe hier in Dschidda ein Mietshaus, also hab ich eine Wohnung an ihn vermietet.«
»Und sich mit ihm angefreundet?«
»Nein. Ich hab ihn dann erst vor etwa fünf Wochen wiedergesehen. Jacob hat ihn mitgebracht. Erics Frau war gerade abgereist, und die beiden wollten ein paar Tage in meinem Haus in der Wüste verbringen.«
»Verstehe.« Osama konsultierte seine Notizen. »Also haben Sie zu dritt einen Ausflug in die Wüste geplant?«
»Ja.«
»Und wie kam
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