Totenverse (German Edition)
kam, sah er, dass sein Jeep aufgebrochen worden war. Die Fahrertür war angelehnt, und am Armaturenbrett klebte ein Zettel. Der Schrecken fuhr Nayir in die Glieder. In Dankbarkeit für Ihren großen Einsatz , stand auf dem Zettel. Von Mohammed Amir . In die untere Hälfte des Zettels waren Autoschlüssel eingewickelt. Nayir sah sich um und bemerkte einen Land Rover, der neben seinem Jeep parkte.
Es war einer von den Land Rovern, die er zwei Tage zuvor beladen hatte. Sogar die Salztabletten waren im Kofferraum, außerdem Decken, ein Zweimannzelt, ein Schlafsack und eine neue Kühlbox. Irgendwer hatte sie aufmerksamerweise mit Eis gefüllt, und zwar erst kürzlich. Es hatte sich erst wenig Wasser auf dem Boden gesammelt, und Kaviar und alkoholfreies Bier waren noch kalt. Auch eine neue Wasserflasche war dabei, eine ziemlich teure von Brookstone, sowie ein Ordner mit noch unbenutzten topografischen Karten. Er öffnete die Fahrertür und sah ein GPS-Navigationssystem und einen CD-Player. Auf dem Armaturenbrett lag ein nagelneuer Koran, dessen goldgeränderte Seiten noch zusammenklebten und knisterten, als er ihn aufschlug.
Ohne zu überlegen, setzte er sich hinters Steuer und fuhr vom Parkplatz. Er war an den pochenden Motor des Jeeps gewöhnt und staunte, wie leise der Wagen dahinrollte. Es würde ihm das Herz brechen.
Zwanzig Minuten später fuhr er in die Garage der Amirs, parkte den Rover neben den anderen und machte sich auf die Suche nach einem der Brüder, aber in dem klimatisierten Büro saßen nur Bedienstete herum, rauchten und tranken Kaffee. Er gab ihnen die Autoschlüssel und trug ihnen auf, Mohammed Amir für seine außerordentliche Freundlichkeit zu danken, ihm aber zu erklären, dass Nayir ein so großes Geschenk nicht annehmen konnte. Wofür? , fragte er sich. Dafür, dass ich zwei Wochen lang meine Arbeit gemacht habe, für die ich ohnehin schon großzügig bezahlt worden bin? Die Bediensteten verstanden, und einer von ihnen brachte Nayir zum Jachthafen zurück.
Erst nach dem mittäglichen Dhuhr-Gebet begann er, seine Entscheidung zu bereuen. Er war auf dem Steg bei seinem Boot, rollte in der brodelnden Mittagshitze Taue auf und wünschte sich verzweifelt, er könnte in irgendeinem klimatisierten Gefährt eine Spritztour machen. Eine Frau kam mit einem kleinen Hund an der Leine vorbei. Sie trug kein Kopftuch, und das schwarze krause Haar wehte ihr um den Kopf, obwohl sich kein Lüftchen regte. Der kleine Hund, dessen Fell ebenso schwarz und kraus war, kläffte Nayir an. Die Frau lachte, bückte sich und nahm den Hund auf den Arm.
»Er hat Angst vor großen, gutaussehenden Männern«, sagte sie.
Nayir sah sie nicht an und hielt den Blick auf die Taue gerichtet. Als die Frau weiterging, nahm er sich vor, sich bei der Hafenleitung zu beschweren. Er hätte schwören können, dass seit Erlass des königlichen Verbots, Hunde in der Öffentlichkeit auszuführen – mit der nicht ganz unpassenden Begründung, die Vierbeiner seien nur ein weiterer Vorwand für kokettes Verhalten (oder hatte es geheißen, sie dienten als schicke Accessoires, wie eine Gucci-Handtasche oder hochhackige Schuhe? Er wusste es nicht mehr.) – mehr Menschen denn je ihre Hunde ausführten. Jedenfalls trieben sich mehr Katzen nachts auf den Stegen herum. Die Stadt kam ihm immer fremder vor, und das war stets ein Zeichen dafür, dass er mal wieder die Einfachheit der Wüste brauchte.
Seine Pläne hatten sich zerschlagen, aber er konnte ja auch allein aufbrechen. Immerhin hatte er alle Vorräte beisammen. Er hatte Geld auf der Bank. Und sein Jeep war zwar nicht perfekt, aber er lief noch.
Eine halbe Stunde später war er auf der Schnellstraße, die ihn nach Wadi Khulais bringen würde. Langweilig, ja, aber es war nicht zu weit draußen, sodass sein Handy dort noch Empfang hatte und er sich, falls sein Jeep ihn doch im Stich ließ, von jemandem zurück in die Stadt mitnehmen lassen konnte. Gerade hatte er die ersten offenen Weiten erblickt, als sein Handy klingelte und eine kleine Explosion in seiner Brust auslöste. Katya . Er hielt am Straßenrand und sah aufs Display. Die Nummer kannte er nicht, aber sie könnte es sein. Er meldete sich hastig und versuchte, nicht atemlos zu klingen.
»Hallo, Nayir, ich bin’s.« Sie klang beiläufig, fast desinteressiert, als würden sie jeden Tag miteinander telefonieren.
Unbehagen stieg in ihm auf. In den 24 Stunden seit ihrer Begegnung hatte er sich an das Gefühl geklammert, das ihn
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