Totenwache - Thriller
Wasser, das an einigen Stellen aus den Schweißnähten austrat, hatte in der Lackierung der Behälter lange Rostbänder hinterlassen, die an eine Kuchenglasur erinnerten.
»Der dort drüben«, sagte Nick und zeigte auf den Turm auf der rechten Seite. »Mein Haus steht direkt hinter dem Tank.«
Riley setzte den Fuß auf die erste Sprosse der Metallleiter und blickte nach oben. Etwa fünfzehn Meter über ihr hob sich der Rand des Wassertanks scharf von dem diffusen Licht des Abendhimmels ab. Sie stieg auf die nächste Sprosse. Nick legte die Hände auf Höhe ihrer Beine um die beiden Stangen der Leiter.
»Auf geht’s«, sagte er. »Ich bin direkt hinter dir.«
Riley blickte nach unten. Bereits jetzt konnte sie das Dach von Nicks Haus erkennen, den kleinen Hof und dahinter das Gewächshaus, in dessen Scheiben sich das Abendlicht spiegelte. Oben auf dem Tank bot sich gewiss ein hervorragender Ausblick auf Nicks Haus und die Stadt Tarentum. Riley überprüfte nochmals ihren Griff. Obwohl sie bislang höchstens sechs Meter hoch geklettert war, ließ das links neben ihr jäh abstürzende Gelände den Höhenunterschied sehr viel größer erscheinen. Sie drängte sich gegen die Leiter und fixierte die Rostflecken vor sich auf dem Metall.
»Meinst du, das ist wirklich so eine gute Idee?«
»Du kannst mir vertrauen«, sagte Nick und drängte sich an sie.
»Als ich dir das letzte Mal vertraut habe, bin ich am Ende im Allegheny River gelandet.«
»Das ist nun also der Dank. Hab ich dir nicht versprochen, dir Tarentum zu zeigen? Und von hier hat man den absolut besten Blick auf die Stadt.«
Die beiden waren nur noch etwa drei Meter vom oberen Rand des Turms entfernt, als Riley plötzlich einen Schwächeanfall erlitt und über Rückenschmerzen klagte. Sie hielt die Leiter mit den Armen umklammert und machte die Augen zu.
»Ich brauche unbedingt eine kurze Pause«, sagte sie keuchend. »Klettern ist für mich besonders anstrengend.«
Nick stieg auf die Sprosse unter ihr und drängte sich an sie. »Lass dir Zeit«, sagte er leise. »Wenn du dich wieder besser fühlst, sag einfach Bescheid.«
Einige Minuten später kletterten die beiden oben über den Rand und krochen auf allen vieren auf die andere Seite des Tanks. Nick setzte sich aufrecht hin und ließ die Beine über den Rand des Tanks baumeln. Riley kam vorsichtig näher.
Nick sah sie an. »Was ist denn los mit dir, Königin der Abraumhalden?«
»Von einer Abraumhalde kann man nicht herunterfallen«, erwiderte sie. Sie richtete den Blick starr auf den Hang, der hinter den Wassertanks weiter anstieg, bis ihre Höhenangst allmählich nachließ. Dann erst hockte sie sich neben Nick, allerdings dauerte es eine Weile, bis sie sich traute, die umliegende Landschaft in Augenschein zu nehmen.
Der Ausblick, der sich von hier oben bot, war spektakulär. Tief unter ihnen glitzerte der Allegheny River im blauweißen Mondlicht. Auf der anderen Seite des Flusses waren an den steilen Hängen die Lichter von Lower Burrell und New Kensington zu erkennen, und oben auf dem Plateau auf der gegenüberliegenden Seite waren überall blau und gelb glitzernde Flecken zu sehen. Diesseits des Flusses hoben sich die scharf geschnittenen Silhouetten der Güterwaggons, der Lagerhäuser und der riesigen Förderbänder auf den Schrottplätzen deutlich von dem hell glitzernden Wasser ab. Weiter hangaufwärts verwandelten sich die flackernden Lichtflecken allmählich in einzelne Straßenlaternen, und aus vagen geometrischen Formen wurden nun einzelne Häuser, Zäune und Gärten. Die Straßen im Umkreis von Nicks Haus waren in orangefarbenes Licht getaucht, und man konnte dort
buchstäblich jedes Detail erkennen. Nick und Riley blickten direkt auf das Haus und das Grundstück mit dem Gewächshaus hinab. Niemand, der sich dem kleinen Anwesen näherte, würde hier oben unbemerkt bleiben.
»Daran könnte ich mich gewöhnen«, sagte Riley.
»Als kleiner Junge habe ich eine Menge Zeit hier oben verbracht. Damals waren die Tanks noch nicht oben abgedeckt. Ich bin meist abends hier hochgeklettert und dann auf der Umrandung herumspaziert.«
»Hat deine Mutter davon gewusst?«
»Hast du deinem Vater erzählt, dass du auf der Abraumhalde herumturnst?«
Sie schüttelte den Kopf. »In manchen Fällen ist es leichter, sich hinterher zu entschuldigen, als vorher um Erlaubnis zu bitten.«
»Genau mein Motto.«
Die folgenden Minuten saßen die beiden still da. Der Ausblick, der sich ihnen bot, war so
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