Totenwache - Thriller
überwältigend, dass ehrfürchtiges Schweigen die einzig angemessene Reaktion zu sein schien.
»Glaubst du, dass Sarah in dem Hotel wirklich in Sicherheit ist?«
»Ja, sie ist dort sicher - und du solltest jetzt eigentlich auch dort sein.«
»Hör auf«, sagte Riley.
Dann hörten sie ein Motorengeräusch. Von links kam ein Auto näher und hielt ein paar Straßen entfernt. Ein Mann stieg aus, schloss die Wagentür ab und ging in das nächstgelegene Haus.
»Mr. Jankowski«, sagte Nick. »Als sein Hund vor ein paar Jahren gestorben ist, habe ich ihn gefragt, ob ich den Kadaver haben kann. Seither hat er mich keines Blickes mehr gewürdigt.«
Riley musterte sein Gesicht. In seinen Brillengläsern spiegelte sich das gleißende Mondlicht. Von hier oben konnte Nick die Menschen, die dort unten ihr kleines Leben lebten, in der Tat wie die Insekten in seinen Terrarien beobachten, sie sich zugleich vom Leib halten und sich so vor Verletzungen schützen. Riley überlegte, ob er wohl je einen anderen Menschen mit auf diesen Wasserturm genommen hatte. Plötzlich musste sie an Leo denken. Sie bekam einen Magenkrampf, und die Tränen fingen wieder an zu fließen.
»Nick, das mit Leo«, sagte sie, »tut mir so schrecklich leid …«
»War doch nicht dein Fehler.«
»Trotzdem ist er meinetwegen gestorben. Wenn ich nicht …«
»Ich habe ihn darum gebeten, uns zu helfen, nicht du. Leos Tod geht auf meine Kappe.«
Riley strich ihm über den Rücken. »Wo hat er eigentlich früher gewohnt? Kann man das Haus von hier aus sehen?«
Nick wies auf ein Haus weiter unten am Hang, zog die Hand dann aber rasch wieder zurück, als ob ihn ein Stromschlag getroffen hätte. »Nein, schuld ist allein Santangelo«, sagte er, »und ich werde persönlich dafür sorgen, dass er nicht ungeschoren davonkommt.«
»Und was ist mit den anderen? Ich meine mit Lassiter, Zohar und Truett?«
»Wenn wir auch nur einen von denen überführen, haben wir die anderen automatisch mit am Haken.«
Riley wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und betrachtete das Haus weiter unten. »Und woher weißt du, dass Santangelo ausgerechnet heute Abend kommt?«
»Deswegen habe ich doch meine Mutter angerufen, und zwar von meinem Handy aus, und das wird hundertprozentig abgehört. Außerdem habe ich die Adresse und
die Telefonnummer extra noch im Motel an der Rezeption hinterlegt. Da hätte ich ebenso gut eine riesige Plakatwand aufstellen können. Santangelo weiß also, wo er uns finden kann. Die Chance, uns hier zu erwischen, lässt der sich sicher nicht entgehen. Und natürlich kommt er erst im Schutz der Dunkelheit, damit ihn niemand sieht.«
In den nächsten beiden Stunden saßen die beiden schweigend da und beobachteten jedes vorbeifahrende Auto, bis es nicht mehr zu sehen war, jeden Fußgänger, bis er die Haustür hinter sich zugemacht hatte. Gegen zehn Uhr kam schließlich eine silberfarbene Limousine den Hang heraufgefahren und hielt ein paar Straßen entfernt. Der Motor wurde ausgeschaltet, die Scheinwerfer erloschen, allerdings stieg in den folgenden Minuten niemand aus. Dann ging leise die Tür auf der Fahrerseite auf, eine Gestalt stieg aus und blickte um sich. Nick und Riley wussten sofort, wen sie vor sich hatten: Santangelo.
Kurz darauf wurde auf der Beifahrerseite die Tür geöffnet, und eine junge Frau mit langem rotbraunem Haar stieg aus.
»Wer ist denn das?«, fragte Riley.
»So was hab ich schon die ganze Zeit vermutet«, sagte Nick. »Sie spielt den Lockvogel.«
»Was für einen Lockvogel?«
»Überleg doch mal. Die Ermordung jedes einzelnen ›Spenders‹ war sorgfältig geplant - sowohl was den Tatort als auch den exakten Zeitpunkt anbelangt. Und wie bringt man ein potenzielles Opfer dazu, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu erscheinen? Was bringt einen Mann dazu, mitten in der Nacht in einer der gefährlichsten Gegenden der Stadt anzuhalten, um einen Reifen zu wechseln? Wie stellt man es an, dass ein Mann nichts davon mitbekommt, dass sich ihm jemand von hinten
nähert und ihm eine Injektionsnadel in den Leib stößt? Die Antwort lautet: Man braucht einen Lockvogel. Ich glaube, die Frau da unten ist der letzte Mensch, den Leo vor seinem Tod gesehen hat.«
Riley musterte die Frau von oben bis unten. Doch Santangelo und seine Begleiterin waren noch ziemlich weit weg, ihre Gesichter daher nicht genau zu erkennen. Dafür waren in der Stille der Nacht Geräusche umso deutlicher zu vernehmen. Als die beiden
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