Totenwache
stimmte hier doch nicht. Nur eine Viertelstunde vorher hatte er enthusiastisch von Brieftauben gesprochen und war unmittelbar danach direkt ins Bett gestolpert wie ein Marathonläufer über die Ziellinie.
Die Wolken waren weggeweht worden. Durch die Baumkronen blies ein leichter Wind. Im Mondschein trug Maria die beiden Waschzuber hinaus auf den Gartentisch und bearbeitete nach und nach den Wäscheberg, der sich angesammelt hatte, in der Hoffnung, dass morgen irgendetwas trocken und verwendbar war, denn jetzt waren die Schränke so gut wie leer. Es hätte schlimmer sein können. Sie brauchte das Waschwasser nicht auf dem Herd zu wärmen. Es hätte natürlich auch besser sein können. Maria dachte an Clarence Haag, der jetzt schon länger als einen Tag verschwunden war. An Rosmarie, die allein in ihrem großen Haus saß. Sicher war sie jetzt wach und zermarterte sich ihr Gehirn. Vielleicht ging sie ruhelos von Zimmer zu Zimmer und spähte hinaus in die Dunkelheit. Sicher suchte sie zwischen Clarence’ Sachen, um eine Erklärung für das zu finden, was geschehen war. Plötzlich fielen Maria die Pflanzen im Auto ein. Sie öffnete die Kofferraumklappe und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Da im Dunkel welkten Thymian, Basilikum und Rosmarin vor sich hin. Rosmarin, um sich zu erinnern.
Sie waren am Bach entlang spazieren gegangen. Er hatte Rosmaries kleine Hand in seiner kräftigen Faust gehalten, sie umschlossen. Die Kälte hatte auf der Haut gebrannt, aber er hatte keine Handschuhe anziehen wollen. Ihre Hand war so warm und weich. Das war die Zeit, bevor das Böse gekommen war. Eine kurze Zeit des Glücks. In einem anderen Leben. Vielleicht hatte diese Zeit ihm gar nicht gehört. War nur eine Anleihe. Es kam ihm unwirklich vor, an jene Zeit zu denken, wie ein flimmernder schwarzweißer Amateurfilm. Die Zeit vor dem Bösen, als er noch heil und ganz war und etwas anderes als Bitterkeit empfinden konnte. Die Zeit, bevor die guten warmen Gefühle in ihrem Fluss vor Kälte erstarrt waren.
Das Wasser war gefroren. Raureif glitzerte an den nackten Ästen der Bäume und kniff in die Wangen. Er hatte sich herabgebeugt und die weiße durchsichtige Haut auf ihrer Stirn geküsst. Ihre Wärme an seinen vor Kälte steifen Lippen gespürt. Sein Gesicht in ihrem Haar geborgen. Da sahen sie in einiger Entfernung den Rehbock. Regungslos mit den Vorderfüßen unten auf dem Eis. Der Kopf mit dem prächtigen Geweih vornübergeneigt, bereit zum Kampf. Das Tier hatte sich nicht bewegt, als sie näher kamen. Lauschte nicht auf ihre knirschenden Schritte, als sie durch den verkrusteten Schnee liefen. Kleine Silberschuppen glitzerten in seinem Fell. Rosmarie sah es zuerst: dass er tot war, dass die Beine in das Eis eingebrochen waren. In aufrechter Stellung war er erfroren und zu einer Statue geworden. So stolz mit seinem hoch aufragenden Geweih. Nur der gebrochene Blick verriet, dass alles Leben ihn verlassen hatte. Erst sehr viel später hatte er wieder an ihn gedacht. War eifersüchtig auf ihn wegen seines beneidenswerten Zustandes: ohne Schmerzen, ohne Verluste. Stolz und unantastbar bis zum letzten Atemzug. Ohne etwas zu verlieren.
8
Nach einem anstrengenden Arbeitstag sank Kriminalinspektor Hartman in seinen abgenutzten Sessel vor dem Fernseher, um sich die lokalen Nachrichten anzusehen. Seine Frau Marianne hatte Gemüsedip und Orangensaft bereitgestellt, wieder ein tapferer Versuch, ihrem Mann beim Abnehmen zu helfen. Einer der wichtigsten Beiträge beschäftigte sich an diesem Abend mit dem verschwundenen Grundstücksmakler Clarence Haag, dessen Auto man im Laufe des Abends verlassen auf einem Waldweg dreißig Kilometer von der Stadt entfernt gefunden hatte. Tomas Hartman sah sein eigenes Gesicht auf dem Bildschirm vorbeiflimmern, er hatte den Stand der Fahndung kurz kommentiert. Frech von dem Kameramann, einen Weitwinkel zu benutzen. Denn es konnte doch nicht sein, dass er wieder so sichtbar zugenommen hatte? Das Interview war stark zusammengeschnitten worden und gab das Material, das Hartman dem Fernsehreporter vorgelegt hatte, höchst unvollständig wieder. Ein blauer knisternder Schein beleuchtete den Fußboden des Wohnzimmers. Das Bild auf dem Fernseher verschwand.
»Verfluchtes Meerschweinchen!!« Die Superratte Peggy hatte es mal wieder geschafft. Das Fernsehkabel war durchgenagt. Das unverwundbare Tier starb nie an den Stromstößen, die es sich selbst zufügte. Stattdessen wurde es offenbar nur noch munterer. Wie
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