Toter geht's nicht
sind die Fronten geklärt. Ich werde ein wenig Entlastung haben, schätze allerdings Melinas Arbeitsfähigkeit auch so ein, dass ich vermutlich nicht vollends verarmen werde.
Nun hat also der Laurin der Jacqueline, oder gerne auch Schackeline, wie sie von ihrer Mutter genannt wird, auf die Fresse gehauen. Da das nicht schön ist, verspreche ich der Erzieherin am Telefon, dass ich mich mit den Eltern von Schackeline in Verbindung setzen werde. Versprochen ist zwar versprochen, doch da ich mir von einem Gespräch mit erwachsenen Menschen, die ihre Tochter Schackeline nennen, rein gar nichts verspreche, werde ich mich an dieses Versprechen nicht halten.
Im Schlumpfloch weiß man inzwischen über unsere familiäre Situation Bescheid. Somit sollte uns ab sofort jegliches Hosepissen und Fressehauen eher verziehen als vorgeworfen werden. Immerhin hat sich die Erzieherin, die ich natürlich auch duze, deren Namen ich aber immer vergesse, darauf eingelassen, dass Laurin in den nächsten Wochen auch mal ausnahmsweise von einer Minderjährigen abgeholt werden kann. Also, Melina, ab marsch!
Ich bin Petra sehr dankbar. Acht Wochen kann ich in der Hütte hier bleiben, schreibt sie. Erst dann würden neue Gäste kommen. Es hat sich nichts verändert, seit ich mit Petra und ihren Eltern hier oben Urlaub gemacht habe. Ich muss damals zehn gewesen sein. Manchmal ist es gut, wenn alles bleibt, wie es ist. Vielleicht werde ich die acht Wochen ausreizen. Vielleicht brauche ich sogar noch länger, dann muss ich mir etwas anderes einfallen lassen. Ich muss hier wieder zu mir finden. Wenn ich nur wüsste, wo das ist. Das fühlt sich sehr weit weg an. Weiter weg als diese Hütte. Ich will über mich nachdenken, aber nur zu meinen Bedingungen. Ich will mich nicht von den Gedanken bestimmen lassen. Aber sie tun es trotzdem. Ich habe das Gefühl, ich denke nicht selber über mich nach, sondern ich werde nachgedacht. Und immer wieder gleiten die Gedanken dann ab, zu Melina, zu Laurin und auch manchmal zu Henning. Nie hätte ich gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin. Manchmal habe ich Angst hier, nachts, so alleine, wenn der kalte Wind um die Hütte pfeift. Es tut mir gut, dass keiner etwas von mir will. Kein Schüler ruft meinen Namen, keine Melina schreit mich an, kein Laurin quengelt, und kein Henning memmt. Es war alles zu schnell und zu laut. Das muss ich mir eingestehen. Ich hätte nie Lehrerin werden dürfen. Ich habe gedacht, ich könnte das lernen, mit diesen vielen Kindern auf einmal. Ich brauche Rückzug, Stille. Das habe ich jetzt. Wo führt das hin? Ich habe komplett die Nerven verloren. Deswegen bin ich hier. Ich habe Angst, dass mir so etwas nochmal passieren könnte. Ich traue mir nicht mehr. Ich will wegtauchen. Ich will mein Klavier. Meinen Flügel, auf dem ich so lange nicht gespielt habe, der von Tag zu Tag immer mehr verstimmt. Er fehlt mir. Ich habe Angst. Ich habe Angst hier zu sein, ich habe Angst zurückzugehen, und ich habe Angst, nicht mehr zurückgehen zu können. Oh Gott, was für wirre Gedanken. Das Hirn rattert. Wie soll das alles nur weitergehen? Ein Leben ohne die Kinder ist unvorstellbar, ein Leben ohne Henning … na ja, irgendwie schon. Da ist so viel verkümmert, mit uns, in uns. Wann habe ich eigentlich aufgehört, über seine Witze zu lachen? Und wann haben wir beide aufgehört, im Auto zur Musik mitzusingen?
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11. KAPITEL
F ranziska fehlt mir. Ich hätte ihr niemals zugetraut, dass sie das so gnadenlos durchzieht. Wie kann man, ohne ein Sterbenswörtchen zu verlieren, die Kinder einfach so sitzenlassen? Ist sie wirklich so fertig mit den Nerven, dass sie nicht wenigstens einmal kurz anrufen kann? Über eine Woche ist sie nun schon weg. Und ich hätte inzwischen einige Fragen an sie. Zum Beispiel, wo das scheiß Streuzeug für den tiefgefrorenen Gehweg ist. Unsere Nazinachbarn beschweren sich ohne Ende, dass auf dem Gehweg nicht gestreut sei. Ich müsse meiner Bürgerpflicht als Hausbesitzer nachkommen.
So langsam frage ich mich, wo genau Franziska auf Borkum untergetaucht ist. In der geschlossenen Psychiatrie? Keiner der Angehörigen dürfe sich dort melden, meint ihre Freundin Petra. Sie ist weg, und doch erinnert mich nahezu alles in diesem Haus an sie. Vor allem der Flügel, der einen für den Moment unangemessen großen Raum in unserem Haus einnimmt. Er steht da einfach blöd herum, vorwurfsvoll und gelangweilt. Keiner spielt auf ihm. Das tat Franziska zwar während
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